"Das Jahrzehnt des Historismus"

Tobias Rapp im Gespräch mit Andreas Müller · 29.12.2011
Beim musikalischen Rückblick auf das Jahr 2011 wurde ein Phänomen von den Kritikern diskutiert wie kein anderes: Retro! Ob im Mainstream oder den Randbereichen des Musikgeschäftes - kein Genre schien frei von Referenzen auf eine Pop-Epoche von einst.
Andreas Müller: Retro - dieses Wort fiel im zurückliegenden Jahr immer wieder, wenn es um das aktuelle Popmusikgeschehen ging. Dass diese Debatte so aufkochte, ist wahrscheinlich dem Buch des britischen Musikjournalisten Simon Reynolds geschuldet. Die Kritiker haben es alle gelesen, "Retromania" heißt es. Bislang liegt es nur in englischer Sprache vor, und darin beklagt der Autor einen mangelnden Innovationswillen in der aktuellen Popmusik, die zu sehr von einem steten Blick zurück geprägt sei. Neues, so Reynolds, findet sich, wenn überhaupt, bestenfalls am Rande des Geschäfts. Bei mir ist jetzt zu Gast der Musikkritiker Tobias Rapp. Schönen guten Tag!

Tobias Rapp: Hallo!

Müller: War 2011 das Retrojahr?

Rapp: Sicher. 2011 war ein Retrojahr, würde ich sagen, so wie die zehn Jahre davor auch schon. Also ich glaube, dass seit der Jahrtausendwende schon so der beherrschende Trend im popkulturellen Geschehen der Historismus ist. Ich glaube, wir haben gerade ein Jahrzehnt des Historismus hinter uns gebracht.

Müller: Wo, also in welchen Genres, ließ sich das besonders deutlich wahrnehmen?

Rapp: Nun ja, wenn man die großen Künstler, die großen Stars des vergangenen Jahres anschaut - Adele, ganz eindeutig ein Fall für Retromania: Kein einziger Moment in der Musik von Adele ist originell, neu, selbst ausgedacht. Das sind alles Sachen, die schon irgendwie ausformuliert mal vorgelegen haben, und Adele macht sozusagen da ihres draus. Lady Gaga wird schon schwieriger, Simon Reynolds würde jetzt sagen, ist eine 80er-Revival-Tante. Ich würde sagen, das geht so ohne Weiteres nicht auf. ich glaube, dass man bei Lady Gaga tatsächlich eine Menge Momente finden kann, die ganz eindeutig im Hier und Jetzt spielen, und nicht sich an den historischen Vorbildern wie Madonna orientieren. Wenn man so einen Künstler wie Bruno Mars nimmt, fällt mir das ganz schwer zu beurteilen, weil ich irgendwie finde, dass er natürlich sich in einer bestimmten Geschichte verortet, aber das doch irgendwie Musik ist, die so geschichtslos irgendwo in der Gegenwart ist, aber auch ohne Zukunftsanteile. Das ist irgendwie so Musik, die einfach so im Hier und Jetzt die Radiokanäle verstopft.

Müller: Simon Reynolds sagt in seinem Buch: So viel Vergangenheit war nie wie jetzt. Fällt den Musikern und Musikerinnen nichts mehr ein, oder woher kommt dieses Aufgreifen von Moden und Klängen aus der Vergangenheit?

Rapp: Nun, ich glaube, das größte Problem ist, dass die alte Musik nicht mehr so einfach verschwindet wie früher. Früher war Musik, wenn sie alt war, weg. Da musste man dann in den Second-Hand-Laden gehen, um die Platte zu bekommen. Heute bleibt die Musik einfach, ist weiter zum Abruf da, das ist sozusagen das Schicksal der Digitalisierung, und ich glaube, dass das eine ganz neue Situation geschaffen hat, dass eben neue Musik nicht nur mit anderer neuer Musik in Konkurrenz steht, sondern neue Musik auch immer mit der alten Musik in Konkurrenz steht, und das ist natürlich schwierig, weil die neue Musik, so breit sie aufgestellt ist, steht natürlich immer nur mit der guten alten Musik in Konkurrenz, und das schafft dann Schwierigkeiten, weil du oft nicht so gut aussiehst daneben.

Müller: Also die Digitalisierung spielt sicherlich eine Rolle, einfach diese Tatsache, dass riesige Musik-, aber auch Video- und Bildarchive nur einen Mausklick entfernt sind. Gerade die 80er-Jahre haben ja im vergangenen Jahrzehnt wohl eine riesige Rolle gespielt. Das war natürlich auch die Zeit, als wir diesen wahnsinnigen Boom von Musikvideos hatten, als es da auch sehr viel Geld noch für gab. Und man klickt jetzt rein und hat plötzlich diese Bilderwelten. Spielt das eine Rolle, ist das auch ein Problem für die Musiker?

Rapp: Nun, ich glaube, dass das auf jeden Fall eine Rolle spielt, wobei für die Musiker selber, glaube ich, noch mal was ganz anderes wichtig ist, wenn man über Retromania spricht, dass nämlich der Computer selbst zum Instrument geworden ist. Es sind nicht mehr nur die Instrumente das, was Musik macht, sondern es ist Musik selbst, aus der Musik gemacht wird. Wenn man Musik selbst in den Sampler einspeist, kann man sie drehen, wenden, filtern - irgendwas damit machen, und man hat etwas Neues, oder etwas ein bisschen Neues.

Und diese technische Möglichkeit, die gibt es jetzt seit 15 Jahren vielleicht, so dass sie wirklich ausgefahren werden kann, dass man wirklich damit arbeiten kann. Und ich glaube, dass die Musiker gerade erst anfangen zu begreifen, was das bedeutet, dass Musik selbst auch ein Instrument geworden ist. Und ich glaube, dass viel dieses Gefühls - oh, alles war schon mal da - was damit zu tun hat, dass in der Musik selbst, die man hört, ebenso vieles verschlüsselt vorhanden ist, was auch schon mal da war.

Müller: Wir haben jetzt mal ein Beispiel, eine Band aus Los Angeles, die Dum Dum Girls, die sind von der britischen Musikpresse schon im vergangenen Jahr sehr gefeiert worden, in diesem Jahr noch mal, und das ist ganz neue Musik, auch wenn das jetzt vielleicht nicht so klingt.

((Musikeinspielung))

Müller: Ja, das waren die Dum Dum Girls aus Los Angeles, und das war Musik - "Always Looking" - aus ihrem Album, das im vergangenen Sommer erschienen ist. Tobias Rapp ist bei mir im Studio. Tobias, was wird hier zitiert?

Rapp: Ich finde das ganz interessant, dass wir die Dum Dum Girls als Beispiel genommen haben, weil für mich hört sich das zuallererst mal nach The Jesus and Mary Chain an, so einer britischen Noise-Rock-Band aus den 80er-Jahren, die lustigerweise in den 80ern ja selbst schon eine totale Zitatband waren. Also Jesus and Mary Chain wollten gerne so klingen wie der klassische Pop der späten 50-er, frühen 60-er, bloß eben mit mächtigen Krachgitarren drüber, und daran merkt man auch, finde ich, dass so neu diese ganze Sache mit der Retromania nicht ist.

Das schreibt ja Simon Reynolds in seinem Buch auch, dass - auf der einen Seite gibt es so viel Vergangenheit wie noch nie in der gegenwärtigen Musik, auf der anderen Seite hat man aber im Pop immer schon den Rückblick präsent gehabt. Das erzählt er ja in dem Buch dann auch an ganz vielen Beispielen nach, dass alle großen popkulturellen Bewegungen immer auch mit einem Bein in der Vergangenheit standen, und ich glaube, dass sozusagen man wirklich - wie sagt man so schön? - die Kirche im Dorf lassen muss. Es ist nicht alles immer nur - die Retromania ist nicht neu, sagen wir mal so.

Müller: Im Deutschlandradio Kultur blicken wir zusammen mit Tobias Rapp zurück auf das Popmusikjahr 2011, und das war bestimmt von dem Begriff Retro. Dass die Debatte um Retro so aufkochte, ist wohl in weiten Teilen diesem Buch des britischen Musikjournalisten Simon Reynolds geschuldet. "Retromania" heißt es, alle Kritiker in Deutschland haben es gelesen, darin beklagt der Autor einen mangelnden Innovationswillen in der aktuellen Popmusik. Und wir haben mit Reynolds sprechen können, und hier ist mal eine seiner Thesen:

Simon Reynolds: Das Interesse daran, etwas Neues, Futuristisches zu schaffen, ist zurückgegangen. Das liegt auch daran, dass unsere Vorstellung von Zukunft mittlerweile selbst zum Klischee geworden ist. Oft, wen wir etwas futuristisch angehauchtes hören, ist das retrofuturistisch. Die Zukunft hat kalt, elektronisch, kosmisch und abstrakt zu klingen. Aber das sind lang etablierte Vorstellungen. Unsere Vorstellung vom Sound der Zukunft ist mittlerweile auch schon retro.

Müller: Ja, Tobias Rapp, selbst die für Innovation stehenden elektronischen Musikszenen bringen also nichts wirklich Neues?

Rapp: Das stimmt, ja. Also auch die elektronische Musik ist in Retroschleifen verfangen, arbeitet ihre eigene Geschichte durch, aber ich glaube, das ist ja nicht nur eine Sache der Musik selbst. Ich meine, wir alle müssen uns doch fragen: Wie stellen wir uns die Zukunft vor? Also die Zukunft, die letzte Zukunft, die man sich vorstellte, das ist unsere Gegenwart heute. Also wir leben in einer bestimmten Art und Weise in der Zukunft. Wir haben Telefone, mit denen man sich Fahrräder bestellen kann. Wir haben all diese ganzen Sachen, die vor 15 Jahren noch Science-Fiction-Themen waren, und ich kann mir sehr schwer nur einen Futurismus im Augenblick gerade vorstellen.

Und ich glaube, dass sozusagen diese riesige Geschwindigkeit unserer Epoche im Augenblick tatsächlich eher dazu führt, dass viele Leute ein Bedürfnis nach Sicherheiten haben, und diese Sicherheiten findet man in geschichtlich tradierten Fassaden. Das ist ganz ähnlich wie Anfang des 20. Jahrhunderts. In den Nuller-Jahren, so 1905, 1906, 1907, wo sozusagen die technische Entwicklung rasant war, die gesellschaftliche Entwicklung ganz rasant auch war, aber wenn man sich die Berliner Straßen anschaut, dann sieht man Häuser, die historistisch waren, die versuchten, vergangene Epochen zu imitieren, um sozusagen zu sagen: Hallo, ich bin ein Haus, du kannst mich erkennen! Und so ein bisschen so ist das, glaube ich, mit der Retromania im Pop auch. Ganz viele dieser Retromotive sagen: Hallo, ich bin ein Popsong! Ich höre mich an wie ein Popsong, du erkennst mich sofort, ich bin ganz normal. Selbst wenn nichts an diesem Stück Musik normal ist, alles kommt aus dem Computer, auch wenn es sich anhört, als wären da irgendwie zwei Gitarren und ein Bass und ein Schlagzeug zugange.

Müller: Was ist denn mit einem Phänomen wie Dubstep? Das kann man hier, glaube ich, einfach mal so erwähnen, das ist eine Untergrundmusik über Jahre gewesen, aus England kommend, die Anfang dieses Jahres völlig im Mainstream angekommen ist. Ist diese Musik nicht auch innovativ, oder ist sie das eben nicht?

Rapp: Ich denke, dass Dubstep eine sehr interessante und innovative Musik ist. Ob sie jetzt wirklich futuristisch ist, wage ich zu bezweifeln, für mich ist Dubstep eher so eine Musik, die aus einer bestimmten Londoner Situation herauskommt, und in dieser bestimmten Londoner Situation, viele verschiedene Leute prallen aufeinander, es gibt eine lange Geschichte von Hip-Hop und Reggae und Techno und House - diese bestimmte Konstellation mendelt seit 20 Jahren immer wieder solche Musikstile aus, die alle gemeinsam haben, dass sie sehr basslastig sind. Und insofern steht für mich Dubstep da wirklich in einer Tradition - in einer sehr radikalen Tradition, die auch immer wieder sozusagen den Bruch zum Teil der Tradition macht. Aber so wahnsinnig neu kommt mir das nicht vor.

Müller: Also auch mit einem Bein in der Vergangenheit, ganz deutlich, und wir hören mal Substract mit dem Sänger Sampha.

((Musikeinspielung)

Müller: Ein Ausschnitt aus dem Stück "Hold on". Der britische Produzent Substract hier mit dem Sänger Sampha. Und ja, mit einem Bein sicherlich in der Vergangenheit stehend, dieser Dubstep - Weiterentwicklung muss man ja, glaube ich, fast schon sagen.

Rapp: Also was ich finde, was man an dem Stück ganz toll ablesen kann, ist, dass diese Radikalisierungsschübe in der Musik, die auch in Dubstep vorhanden ist, das sind ganz oft die Jungs-Angelegenheiten. Da sitzen Jungs in einem Keller zusammen und machen radikale Musik. So, dass, was Sie vorhin skizziert haben als Weg in den Mainstream, ist oft, dass diese Jungs die Tür aufmachen und sagen: Hallo Mädchen, kommt rein! Und ich finde diesen Weg in den Pop, den Dubstep dieses Jahr gegangen ist, was man in dem Stück gerade eben wunderbar gehört hat, das ist tatsächlich eine Feminisierung dieses Sounds auch. Und das finde ich einen extremen Gewinn.

Müller: Ich will noch mal was anderes ansprechen, es gab im Sommer eine Debatte in der britischen Musikpresse, an deren Ende es zugespitzt hieß: Leute, macht euch doch nichts vor, nach 60 Jahren Rock- beziehungsweise Popkultur ist das ganz am Ende, auserzählt, da kommt nichts mehr. Ist das wirklich so, ist die Geschichte der Rock- und Popmusik auserzählt?

Rapp: Also wenn man Rock im engeren Sinne anschaut, also als Gitarre, Bass, Schlagzeug, Gesang, Rebellenpose - ich glaube, dass das ästhetisch auserzählt ist. Ich glaube, das, was nicht verschwinden wird bis auf Weiteres ist das Bedürfnis von Jungs, Banden zu bilden. Diese Idee der Band ist ja jetzt primär nicht eine musikalische Idee, sondern es ist ja primär eine soziale Idee, dass 16jährige sich zusammenschließen und sagen, wir gegen die Welt. Und ich glaube, dass das erst mal was Ewiges ist. Was für einen Ausdruck, kulturellen Ausdruck, dieses Bedürfnis finden wird, ganz ähnlich wie das Hip-Hop-Bedürfnis, zu sagen, ich bin der Tollste und das sind meine Freunde, diese Bedürfnisse bleiben. Die werden neue Ausdrücke finden.

Müller: Ist diese ganze Retrodebatte eigentlich ein Thema für die Konsumenten oder doch nur ein Kritikerproblem, also von Leuten, die sehr, sehr viel hören, alles kennen und genervt sind, wenn nichts neues mehr kommt, oder sagen die Leute, uns doch egal, Hauptsache wir kriegen schöne Musik?

Rapp: Ich glaube, dass das tatsächlich für alle Leute angeht. Ich glaube nur, das die Äußerungsformen unterschiedliche sind. Die Kritiker sagen: Ach, das hört sich doch nach der raren Platte von neunzehnhundertsoundso an. Und der normale Konsument sagt entweder so was wie, kenne ich, toll, wenn es ihm gefällt, oder er sagt, ach, das ist doch nur geklaut, finde ich doof, wenn es ihm nicht gefällt.

Müller: Wobei ja interessant ist, die meisten Leute hören ja eigentlich am liebsten Sachen, die sie kennen, also in denen man sich irgendwie wohlfühlen kann.

Rapp: Richtig, also ich glaube, dass auch diese Retrodebatte auch eine Sache des Älterwerdens ist, sowohl des Älterwerdens von Musik als auch des Älterwerdens der Leute, die diese Debatte führen. Weil man kann ja gar nicht anders, als Musik abzugleichen mit dem, was man kennt.

Müller: Ganz kurz noch, wie wird es weitergehen? Wird die Rückbesinnung aufs gestern auch die Popmusik 2012 prägen?

Rapp: Ich bin ganz schlecht mit Prognosen. Ich würde mir wünschen, dass dieses Zeitalter des Historismus irgendwann einmal ein Ende findet, dass irgendwann man wieder Vorstellungen von Zukunft entwickelt, die wirklich was mit Zukunft zu tun haben, dass diese Ängste, die man mit der Zukunft verbindet und wo man so Rückzug sucht in bekannten ästhetischen Oberflächen, dass das irgendwann einmal dann selbst der Vergangenheit angehört.

Müller: Der Rückblick auf die Popmusik, die geprägt war von Retro im Jahr 2011 mit Tobias Rapp, vielen Dank!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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