Das Jahrhundert der Völkermorde

Rezensiert von Uwe Stolzmann · 04.05.2006
Das 20. Jahrhundert, so sehen es Historiker, war das Zeitalter der Völkermorde. Nie zuvor gab es derart konsequente Versuche, Volksgruppen oder komplette Ethnien zu vernichten.
"Völkermord" – wir haben uns an das schreckliche Wort und seine inflationäre Nutzung längst gewöhnt. Fast täglich lesen oder hören wir den Begriff, in Medienbeiträgen über Weltkrieg und Shoah, in der Auseinandersetzung um den EU-Beitritt der Türkei, in Berichten über das Haager Kriegsverbrechertribunal. Doch was ist das, Völkermord? Was unterscheidet ihn von Massakern, "ethnischen Säuberungen" sowie anderen Formen der meist staatlich organisierten Massengewalt?

Boris Barth, Professor für Geschichte an der Universität Konstanz, versucht diese Fragen in einem Buch zu beantworten. Mit "Genozid" hat er eine Metastudie zum Thema vorgelegt, eine Monographie, in der er die Untersuchungen Dutzender Fachleute analysiert, kommentiert und bewertet.

Völkermord, schreibt Barth, sei allgemein die Auslöschung willkürlich definierter Gruppen von Menschen unter meist extrem brutalen Umständen. Spätestens seit Ausbruch des Ersten Weltkriegs gebe es dieses neuartige Phänomen, doch herrsche ihm gegenüber eine auffällige Sprach- und Fassungslosigkeit.

Churchill nannte es das "Verbrechen ohne Namen"; der Internationale Strafgerichtshof für Ruanda schrieb kürzlich vom "Verbrechen aller Verbrechen".

1944 prägte Raphael Lemkin, ein Jurist polnisch jüdischer Herkunft, das Kunstwort "Genozid" (genos – griechisch: Stamm, Rasse, Volk; caedere – lateinisch: töten). Ende 1945 tauchte der Begriff erstmals in einem offiziellen Dokument auf, in der Anklageschrift des Nürnberger Prozesses.

Die gültige UN-Konvention (von 1948) definiert "Genozid" als eine Handlung, "begangen in der Absicht, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören". (Am Rande: Die BRD ratifizierte die Übereinkunft 1955, die USA taten es erst Ende der Achtziger.)

Aber was genau fällt unter diese Definition? Wie weit oder eng ist sie auslegbar? Wann darf, wann muss man von Völkermord sprechen? Darüber gibt es zwischen Politikern und Gelehrten bis heute heftige Kontroversen. Mittlerweile existiert eine "vergleichende Genozidforschung", jedoch, so Barth, die Kooperation der Experten lasse zu wünschen übrig. Denn der Disput wird oft von politischen Interessen bestimmt, der Begriff bisweilen gar als Propagandawaffe missbraucht. Und in Deutschland stößt das junge Fach auf den grundsätzlichen Verdacht, der Mord an den europäischen Juden solle relativiert werden.

In seinem klar gegliederten Buch beschreibt der Autor jene drei Fälle, bei denen es sich gemäß der UN-Konvention eindeutig um Völkermord handelt: die Übergriffe der Türken 1915/16 gegen die Armenier, den Holocaust sowie die Gewaltorgien in Ruanda 1994.

Unter "Genozidverdacht" stehen auch andere historische Ereignisse, etwa die Conquista in Lateinamerika, der Feldzug deutscher Kolonialtruppen 1904 gegen die Herero, die Massentötungen unter Stalin und unter den Khmer Rouge sowie die "ethnischen Säuberungen" in Ex-Jugoslawien. In keinem dieser Fälle, meint der Autor, sei die "Genozidthese" beweisbar. Was Wunder: Die Definition ist das Problem. Der Versuch der UNO, extreme staatliche Gewalt völkerrechtlich zu ahnden, fiel allzu holocaust-fixiert aus: Die Opfer vieler Greuel der jüngeren Geschichte (zum Beispiel Angehörige politischer Gruppen) werden von der Definition der UNO nicht erfasst.

Prof. Barth registriert aus diesem Grund "erhebliches Unbehagen" einiger Kollegen und erwähnt alternative Umschreibungen für das "Verbrechen aller Verbrechen" - "crimes against humanity" (im Deutschen meist verharmlost zu "Verbrechen gegen die Menschlichkeit") oder schlicht "Massenmord". Aber, leider, auch diese Begriffe sind nicht verbindlich geklärt.

Die UN-Konvention, der Autor betont es, stelle immerhin eine Rechtsgrundlage dar. Täter könnten sich nicht mehr auf nationale Gesetze berufen. Mit Tribunalen und Militäreinsätzen demonstriere die "Völkergemeinschaft" erstmals den Willen, schwerste Delikte zu bestrafen. Freilich, das muss der Professor einräumen: Die Konvention sagt nichts dazu, wie Genozide verhindert werden können. Das Völkerrecht samt allen Machtmitteln ist nur so stark, wie seine politischen Garanten es zulassen. Und die haben - zuletzt in Ruanda und Ex-Jugoslawien - kläglich versagt.

"Genozid" von Boris Barth ist ein wichtiges, allgemeinverständlich geschriebenes Buch zu einem brisanten Thema. Ein Muss für alle, die sich auch zukünftig an der Diskussion zum Thema Völkermord glaubhaft beteiligen wollen.

Boris Barth: Genozid. Völkermord im 20. Jahrhundert. Geschichte, Theorien, Kontroversen
Verlag C.H.Beck, München 2006
271 Seiten, 14,90 Euro