"Das ist NS-Ideologie"

Moderation: Ute Welty · 31.08.2010
Mit seinen Äußerungen zu genetischen Besonderheiten bestimmter Gruppen habe Thilo Sarrazin eine Grenzlinie überschritten, meint der Publizist Günter Wallraff. Dennoch warnt er die SPD davor, Sarrazin aus der Partei auszuschließen.
Ute Welty: Thilo Sarrazin – über die Äußerungen des schreiben SPD-Mitgliedes und Bundesbankvorstandes wird ja seit Tagen mit einer solchen Vehemenz gestritten, als ginge es um nichts mehr und nichts weniger als um den Untergang des Abendlandes. Genau das befürchtet Sarrazin ja, und deswegen greift er zu drastischen Worten, die in ihrer Kombination eine explosive Mischung bilden. Einer, der sich mit explosiven Mischungen ebenfalls bestens auskennt, das ist der Autor Günter Wallraff. Guten Morgen, Herr Wallraff!

Günter Wallraff: Ja guten Morgen!

Welty: Sie, der immer für Pressefreiheit und Meinungsfreiheit gekämpft hat auch juristisch bis hin zum Bundesgerichtshof, mit welchem Eindruck verfolgen Sie die Ereignisse rund um Sarrazin? Müssen eine Gesellschaft und eine Partei, in diesem Fall die SPD, nicht auch extreme Meinungsäußerungen ertragen können?

Wallraff: Im Prinzip schon. Besonders, er hat ja kein Amt mehr in der Partei inne. Und allerdings gibt es schon Grenzüberschreitungen. Ich hatte eine Zeit lang auch gedacht, als ich das Buch zuerst gelesen hatte, da sind Thesen drin, mit denen muss man sich sachlich auseinandersetzen und vieles kann man auch statistisch widerlegen – er ist ja ein Mann der Zahlen –, und man weiß, dass es das Sprichwort gibt, dass jeder fälscht sich die Statistik so, wie er sie braucht. Aber ihn jetzt aus der Partei auszuschließen, das ist ja, das kann auch nach hinten losgehen. Und die Frage ...

Welty: ... inwieweit? ...

Wallraff: ... die Frage ist nun auch, ob sich die SPD da nicht vielleicht doch besser taktisch verhält, nämlich ... und ihn da als Genossen, als Karteileiche sich erst mal weiter ausdünsten lässt. Nämlich sollte er dann nach seinem Ausschluss, so wie er gebaut ist in seiner Halsstarrigkeit, in seinem Trotz dann am Ende eine neue Partei gründen mit einen paar anderen Gleichgesonnenen, eine rechtspopulistische Partei, dann dürfte man, so wie jetzt das hysterisch alles diskutiert wird, dürfte er wohl anfänglich mal mit zehn Prozent und vielleicht darüber hinaus rechnen. Dann haben wir hier eine Partei à la Wilders. Und ich war gestern im holländischen Fernsehen, da wurde er schon mit Wilders verglichen. Also von daher sollte man das alles ein bisschen niedriger hängen und auch die Bundesbank sollte ihn doch mehr beschäftigen und ihn mit fiskalischen, merkantilen komplizierten Sachen mal wirklich arbeiten lassen, dann hat er nicht so viel Zeit, dass für diese ...

Er ist eigentlich für mich ein Biedermann als Brandstifter, der jetzt Öl da in eine bestimmte Stimmung rein gießt und dann rechtsradikale Täter am Ende inspiriert und zündeln lässt.

Welty: Wo verläuft denn Ihre Demarkationslinie? Warum gehört einem Thilo Sarrazin die Rote Karte gezeigt, während rechtsradikale Demonstrationen von der Polizei geschützt werden?

Wallraff: Ich meine Entschuldigung, das kann man natürlich nicht vergleichen. Das sind formale Gründe. Wenn eine Demonstration, wo Demonstrationsrecht und -freiheit gilt, da ist die Polizei im Dilemma und kann dann gar nicht anders als so was, wenn ein Verfassungsgericht das anordnet. Das ...

Welty: ... aber auch Thilo Sarrazin hat ein Recht auf freie Meinungsäußerung.

Wallraff: Er hat sicher ein Recht auf freie Meinungsäußerung, davon macht er ja nun auch exzessiv Gebrauch. Und er legt es ja auch darauf an. Ich habe den Eindruck, ihm geht es darum, Aufmerksamkeit um jeden Preis, Provokation um jeden Preis, Herabsetzung, Verächtlichmachung, Ächtung von Minderheiten um jeden Preis. Und das Buch alleine reicht ihm ja nicht. Er ist ja dann noch gebremst worden, wie er jetzt bedauert, dass nämlich sein Lektor und seine Frau ihn dann noch von verächtlicheren Äußerungen abgehalten haben.

Nein, er musste noch einen draufsetzen, da dachte ich zuerst, Mensch, der Mann leidet unter einem Tourette-Syndrom, also dieser Krankheit, wo jemand zwanghaft andere beschimpft. Und dann noch vorher, um dem Buch noch mehr Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, zu sagen, also hier geht es um genetische Komponenten und Menschen, die bestimmte Rassen haben, andere Gene, die sie bevorzugen und herabsetzen.

Ich meine, das ist wirklich Rassenideologie, das ist NS-Ideologie. Und damit hat er wirklich eine Grenzlinie überschritten und ist von daher auch nicht mehr ernst zu nehmen. Aber warum macht er das, das ist doch die Frage, und warum fällt das im Moment auch auf fruchtbaren Boden? Und das, die positiven Seiten der Immigration, die werden ja überhaupt nicht mehr wahrgenommen!

Welty: Aber lassen Sie mich einhaken an der Stelle, wo Sie gefragt haben, warum macht er das. Warum macht er das denn Ihrer Meinung nach?

Wallraff: Ich habe den Eindruck, da ist ein sehr wirklichkeitsfremder, halsstarriger, sturer Mensch, dem jeder Funken Mitmenschlichkeit, von Nächstenliebe gar nicht zu sprechen, abgeht, und der selbstbesessen eine These als Statistiker, als Mensch, der einen Realitätsverlust hat, jetzt auf Kosten von Schwächeren etwas durchzieht, wo er weiß, wo er spürt, es gibt dieses sogenannte gesunde Volksempfinden, es gibt Abstiegsängste von vielen Menschen, wo in der gesellschaftlichen Hackordnung jetzt Schwächere gebraucht werden, auf denen man das abladen kann.

Und all diese positiven Bemühungen zum Beispiel von der Arbeitsministerin von der Leyen, die ja sehr gute Vorschläge hat, dass zum Beispiel Kindergartenpflicht da ist, wo Kinder zusammen aufwachsen, zusammen spielen, voneinander lernen, die Sprache lernen, da gibt es diese Probleme ja nicht. Das hat auch der Pfeiffer in seinem Forschungsinstitut, der ehemalige Justizminister Niedersachsens, durch langjährige Untersuchungen festgestellt, da haben die Kinder, auch die Einwandererkinder gleiche Chancen, gleiche Aufstiegschancen, gleiche Abiturchancen.

Und die Menschen aus anderen Kulturen, die hier längst sich eingebracht haben und der zweiten und dritten Generation, die dazugehören, die vergleichen können, die die rückständigen Seiten ihrer jeweiligen Kultur hinter sich lassen, Menschen der Zukunft sind, die werden ja schon gar nicht mehr wahrgenommen.

Welty: Ja, die Empörung gegen Sarrazin, die wächst ja von Tag zu Tag, und es ist ja auch nicht so, dass das an ihm spurlos vorübergeht, da ist jetzt auch schon von Morddrohungen zu lesen. Herr Wallraff ...

Wallraff: ... ja nun, das ...

Welty: ... , wenn nun Thilo Sarrazin jetzt bei Ihnen klingeln würde, würden Sie ihm genau so Unterschlupf gewähren, wie Sie es bei Salman Rushdie gemacht haben, dem Autoren der "Satanischen Verse"?

Wallraff: So weit ist es ja nun wirklich nicht. Man darf das jetzt nicht umkehren. Der Mann ist voll im Schutz von Gleichgesinnten. Ich würde jedem Menschen, der bedroht wird, Schutz gewähren, aber selbstverständlich, ungeachtet ... Ich habe auch hier mal einen kurdischen Menschen der PKK, der Dissident war und sich davon abgewandt wurde und von der Türkei gejagt wurde, von der eigenen Gruppe, den habe ich auch bei mir versteckt.

Nein, darum geht es aber doch nicht, das Gegenteil ist doch der Fall. Hier werden Menschen doch zurzeit diskriminiert und demnächst wohl wieder gejagt, weil so ein Mensch hier zündelt und ungeachtet von dem, was er damit anrichtet, selbstherrlich wirklich als Herrenmensch auftritt: Der Mann ist obenauf, der Mann fühlt sich in einer gesicherten Volksgemeinschaft, die unter Umständen zum Tragen kommt, wenn das Schule macht.

Welty: Die Causa Sarrazin. Dazu der Schriftsteller, Filmemacher und Journalist Günter Wallraff in Deutschlandradio Kultur. Ich danke für Ihre Einschätzungen und Einsichten!

Wallraff: Danke schön!