"Das ist eine einmalige Symbiose"

Heinz Rölleke im Gespräch mit Jürgen König · 16.12.2009
Der Philologe Heinz Rölleke äußert sich über Unterschiede bei den Brüdern Grimm. Jacob habe "eine rein wissenschaftliche Dokumentation" gewollt, während Wilhelm die Märchen "sprachlich und stilistisch" verbessert habe, sagte Rölleke anlässlich des 150. Todestages von Wilhelm Grimm.
Jürgen König: Vor 150 Jahren starb Wilhelm Grimm, der große Sprach- und Literaturwissenschaftler, der zusammen mit seinem Bruder Jacob Grimm mit Leidenschaft Kinder- und Hausmärchen sammelte, um das, was im Volk, im Volksgedächtnis an Poesie, auch an Geschichte so schlummerte, um das wieder lebendig zu machen.

In einer Zeit großer politischer Unruhe, die Herrschaft Napoleons über die deutschen Länder ging zu Ende, nach dem Wiener Kongress ordnete sich ganz Europa neu. Und da war plötzlich die Frage nationaler Identität, nationaler Einigung auch, das wurde wichtig.

Und also sammelten die Brüder Grimm deutsche Lieder und Märchen, die dann mit ihren Geschichten und ihrem ganzen Tonfall ganze Generationen prägen sollten. Vor 150 Jahren starb Wilhelm Grimm.

Ich begrüße Professor Heinz Rölleke. Jahrzehntelang war er Professor für deutsche Philologie einschließlich Volkskunde an der Bergischen Universität Wuppertal. Neben vielen anderen Tätigkeiten ist er auch im wissenschaftlichen Beirat der Brüder-Grimm-Gesellschaft. Guten Tag, Herr Rölleke!

Heinz Rölleke: Guten Tag, Herr König!

König: Die Brüder Grimm, das sagt sich immer so. Im kollektiven Gedächtnis stehen die beiden fast zu symbiotisch miteinander verbunden da, waren sie das?

Rölleke: Ja, auf jeden Fall. Schön übrigens, dass Sie Brüder Grimm sagen und nicht wie die meisten fälschlich sagen Gebrüder Grimm. Die Brüder waren wirklich nur die beiden Ältesten aus einer fünfköpfigen Brüderbande mit einer Schwester dabei, und sie haben sich ja selbst immer so genannt. Ja, das ist eine einmalige Symbiose, ein Leben lang.

Jacob Grimm hat im Nachruf auf Wilhelm gesagt, also wenige Tage nach seinem Tod: Wir schliefen zuerst in einem Bett, dann saßen wir an einem Tisch, dann saßen wir in einer Stube, dann saßen wir in zwei Stuben, aber immer noch mit offener Tür dazwischen, und zuletzt werden wir auch nebeneinander begraben liegen. Und das ist auch so, Wilhelm liegt nicht etwa neben seiner Frau begraben, sondern neben Jacob, wie der das bestimmt hat.

König: Das hat ja auch schon etwas Märchenhaftes. Worin unterschieden sich die beiden, also was kennzeichnete Jacob, was charakterisierte Wilhelm Grimm?

Rölleke: Also Jacob ist der besessene Wissenschaftler, ein Einsiedler, der kaum kommuniziert hat gesellschaftlich, der zum Beispiel nicht ins Opernhaus oder in Konzerte ging, der hat eigentlich nur gearbeitet sein ganzen Leben lang von morgens bis abends und hat dabei ganze neue Wissenschaften inauguriert.

Er hat das Temperament voll durchgesetzt und leidenschaftlich und auch nicht ohne Bösartigkeit gegen abweichende Meinungen von Kollegen. Aber wie gesagt, er ist sozusagen ein Titan der Arbeit und der Forschung. Heiner hat mal gesagt, der hat mehr geleistet als eure ganze französische Akademie seit Richelieu. Und das hat er gar nicht kritisch gemeint, sondern …

König: Also das war jetzt Jacob Grimm.

Rölleke: Jacob Grimm. Er hatte eher Furcht vor dessen Arbeitsleistung, die ja wirklich auch weltrekordverdächtig ist in jeder Hinsicht. Wilhelm Grimm ist der geselligere Typ, der auch musischere, der sehr Musik liebte, viele Freundschaften, Brieffreundschaft pflegt, der eben von seinem musischen Talent her auch der geborene Mann war, den Märchenton einzuführen, gegen den sich Jacob ja zuweilen heftig gewehrt hat.

Der wollte eine rein wissenschaftliche Dokumentation, aber Wilhelm hatte ein feines Gespür und hat die Märchen sprachlich und stilistisch durch ständige Veränderungen einfach verbessert, bis dann schließlich dieser weltweit berühmte und unsterbliche Märchenton entstanden war.

König: Über den Ton möchte ich gleich noch mal ausführlich zu sprechen kommen, zunächst ein anderes Zitat von Wilhelm Grimm. "In den Märchen ist eine Zauberwelt aufgetan, die auch bei uns steht. In heimlichen Wäldern, unterirdischen Höhlen, im tiefen Meere und den Kindern noch gezeigt wird. Diese Märchen verdienen eine bessere Aufmerksamkeit, als man ihnen bisher geschenkt. Nicht nur ihrer Dichtung wegen, sondern auch, weil sie zu unserer Nationalpoesie gehören." Zitat Ende. In ihren Bemühungen zu einem Nationalgefühl der Deutschen beizutragen, waren sich darin beide einig?

Rölleke: Ja, in diesen Fragen waren sich alle einig, und wenn Wilhelm mal anderer Meinung war, dann hat ihn Jacob schnell umgebogen, dass sie wieder einer Meinung waren. Er war der eindeutig Dominierende in all diesen Fragen. Ja, das ist ein bisschen zwiespältig.

Sie haben erst ihre Märchensammlung als "ächt hessisch" bezeichnet, wobei echt sie noch mit "ä" schrieben, dass es richtig kräftig klang, also "äscht hessisch". Dann haben sie gemerkt, dass ihre Zuträger ihre Märchen beileibe nicht aus Hessen, zumindest nicht alle aus Hessen hatten, sondern zum Teil von ihren Vorfahren – und die waren in der Regel Hugenotten, aus Frankreich eingewandert – überkommen waren.

Und dann haben sie das weggelassen mit dem "äscht hessisch". Sie haben aber nie ihre Märchensammlung "deutsche Märchen" genannt, wohlweislich auch wegen dieser internationalen Verflechtung der Gattung Märchen, während sie alle anderen Bücher ja mit dem stolzen Titel "deutsch" versehen haben, aus den Gründen, die Sie eben andeuteten: deutsches Einheitsgefühl, deutsches Nationalgefühl stärken.

Im Anfang gegen die napoleonische Besatzung, und als der Zauber vorbei war, dann galt es verloren zu (..), also was gut zu retten sozusagen, was drohte, verloren zu gehen, eben die mündliche Überlieferung, die nicht nur durch die französische Überfremdung, sondern auch durch die Aufklärung, durch allgemeine Schulpflicht, durch Kleinfamilie und so weiter und so weiter, war das lebendige Erzählen in Gruppen im Aussterben begriffen. Und sie waren wirklich die ersten und gleichzeitig die, die die letzte Chance ergriffen haben, diese Geschichten vor dem Vergessen zu bewahren.

König: Das, was Sie eben sagten, Herr Rölleke, erinnert mich an das, was ich letzte Woche bei Ulrich Greiner in der "Zeit" las und was mich sehr erstaunt hat, nämlich dass diese vermeintlich typisch deutschen Märchen wie "Rotkäppchen", "Dornröschen", "Gestiefelter Kater", "Aschenputtel", "Hänsel und Gretel", dass die – schreibt Ulrich Greiner – allesamt französische Vorbilder hätten, was aber nun nicht heiße, dass es urfranzösische Stoffe wären, nein, die Überlieferungswege würden bis in die Antike, andere über Persien bis nach Indien reichen. Das heißt, so deutsch sind diese Geschichten gar nicht?

Rölleke: Nein, sowieso nicht, Märchen sind immer international, im Gegensatz zu Sagen oder auch zu Volksliedern. Märchen sind frei schwebend, das haben die Brüder Grimm schon erkannt und mehrfach betont. Nun, so ganz so romantisch, wie Herr Greiner das sagt, ist es denn doch wohl nicht. Wir haben die ersten Aufzeichnungen von Märchen erst im 16. Jahrhundert.

Also dass es in der Bibel und in der Antike Märchenmotive gibt, zuhauf schon im alten Ägypten, das ist eine Binsenweisheit, aber voll auserzählte Märchen, dass man sagen kann, so, da wird eine Geschichte erzählt, die wir als Märchen definieren können, das, wie gesagt, ist erst ab dem 16. Jahrhundert schriftlich festgehalten. Dass es davor schon mündlich überlieferte Märchen gab, bezweifele ich nicht, aber das ist keine bruchlose Kette von der Antike bis ins 15. Jahrhundert, so was gibt es nicht.

König: Der Anfangssatz des "Froschkönigs", den möchte ich doch zitieren. "In den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat, lebte ein König, dessen Töchter waren alle schön, aber die jüngste war so schön, dass die Sonne selber, die doch so vieles gesehen hat, sich verwunderte, so oft sie ihr ins Gesicht schien." Da haben wir ihn schon, diesen wunderbaren Grimm’schen Märchenton. Können Sie mal als Philologe sagen, was genau er mit der Sprache gemacht hat, dass er dieses Unverwechselbare so hinbekommen hat?

Rölleke: Ja, zuerst muss man mal sagen, dass dieser ganze Satz von Wilhelm Grimm ist, also man würde radikal sagen gedichtet ist. Der ändert nichts am Inhalt, nichts an der Motivik des Märchens, aber ergibt eben den eigenartigen Ton. Es war so: Wilhelm Grimm ist ja mit seinem Bruder zusammen der Gründer der deutschen Philologie, und die beschäftigte sich ursprünglich nur mit mittelalterlicher Kunst, also Nibelungenlied und Wolfram von Eschenbach und Walther von der Vogelweide und so weiter.

Diese Dichtungen sind nie in zeitgenössischen Handschriften überliefert, sondern oft bis zu 200 Jahre später erst auf uns gekommen, also Bearbeitungen sozusagen. Und die Philologie hatte im Anfang und im ganzen 19. Jahrhundert nichts anderes getan, als aus den 70 verschiedenen Parzival-Handschriften einen Parzival zu rekonstruieren, wie ihn wohl Wolfram geschrieben und gedacht hat. Ja? Das ist das philologische Problem. Und da haben sie Meisterhaftes geleistet.

Wenn man später frühere Handschriften fand danach, dann sah man, dass die Rekonstruktion meistens auf dem richtigen Weg war. Dasselbe hat Wilhelm Grimm mit den Märchen versucht. Er hatte oft bis zu sechs Fassungen von einem Märchen, die kamen dann als Einsendung oder als mündliche Erzählung oder er fand sie in einem früheren Buch, und dann hat er aus diesen sechs Fassungen eine gemacht.

Und dabei hat er versucht, genau wie die Philologie, die verloren geglaubte oder wirklich verloren gegangene Urfassung rekonstruieren zu können. Er sagte sozusagen, ich habe ein Gespür dafür, das ist ein altes Motiv, das ist besser in der Fassung A als in der Fassung B, also setze ich das in meinen Text ein. Er hat so was nicht erfunden, sondern er hat konterminiert. Und dabei ist ihm sozusagen ganz unversehens der eigene Märchenton erwachsen.

Er wollte das Märchen so, wie es vielleicht zurzeit von Hans Sachs erzählt worden ist, rekonstruieren, das war sein Bestreben. Und dabei entsteht dieser Märchenton, der eine Mischung ist aus Frühneuhochdeutsch, also Luthers Sprache, Hans Sachs, und Volkssprache – das waren ja die meisten Quellen aus den mündlichen Überlieferungen –, die er ja schon in ganz jungen Jahren an der Sammlung "Des Knaben Wunderhorn" gelernt hatte, da hat er ja mitgearbeitet.

König: Was glauben Sie, Herr Rölleke, warum haben diese Grimm’schen Märchen noch heute diese Wirkung? Wenn ich gerade jetzt ans Kino denke, eben ist eine neue Version des "Froschkönigs" herausgekommen aus dem Hause Disney – warum wirken diese Geschichten noch heute, warum funktionieren sie noch heute?

Rölleke: Ja, da gibt es natürlich ganz verschiedene Erklärungen. Die Psychologen sagen, das sind Archetypen, die hier in Bildern vorgestellt werden, und solche Archetypen, die sprechen jeden im Unterbewusstsein an, und deswegen interessieren diese Texte weiterhin und jede neue Generation aufs Neue. Das ist aber nur eine Erklärungsmöglichkeit.

Die andere ist, sie geben in einfachen Bildern eine Art Weltdeutung und Lebensdeutung. Das ist aber ganz schlicht, das ist nie aufgesetzt als Moral oder als Lehre formuliert, sondern es wird in Bildern vorgestellt. Zum Beispiel die Idee, "du kommst im Leben immer durch, wenn du es richtig machst", siehe "Rotkäppchen".

Also Märchen sind ja Identifikationsangebote, das Kind identifiziert sich mit Rotkäppchen und lernt dabei, ohne es zu merken, selbst wenn ich im Wolfsbauch bin, in einer ausweglosen Situation, ich komme da wieder raus. Alle Märchen enden happy. Und da bieten die Märchen eine wunderbare Mischung in toto und nicht jedes Einzelne, nämlich eine Mischung aus "hilf dir selbst, aber lass dir auch helfen, wenn du allein nicht weiterkommst."

König: Vielen Dank! Vor 150 Jahren, am 16. Dezember 1859, starb der Sprach- und Literaturwissenschaftler Wilhelm Grimm. Ein Gespräch dazu mit dem Märchenforscher Professor Heinz Rölleke. Vor seiner Emeritierung war er Professor für deutsche Philologie einschließlich Volkskunde an der Bergischen Universität Wuppertal. Herr Rölleke, ich danke Ihnen!

Rölleke: Ich danke Ihnen!