"Das ist eine besorgniserregende Entwicklung"

Moderation: Liane von Billerbeck · 25.01.2008
Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen, FAO, befürchtet ein weltweites Aussterben von Nutztierrassen. In den letzten Jahren sei ungefähr jeden Monat eine Nutztierrasse ausgestorben, sagte der stellvertretende Generaldirektor der FAO, Alexander Müller. "Wir brauchen aber genetische Ressourcen", warnte Müller. Es sei daher höchste Zeit, jetzt zu agieren.
Liane von Billerbeck: Es klingt nach einem Anliegen von Naturliebhabern und Romantikern, wenn die sich darum sorgen, dass Tiere mit so putzig klingenden Namen wie "Wollschwein" oder "Zaupelschaf" erhalten werden. Auf der Grünen Woche in Berlin kann man sie noch bis Sonntag sehen. Doch der Grund, Nutztierrassen zu erhalten, ist sehr handfest, ja entscheidend für die Welternährung. Das mahnt jedenfalls auch die UN-Ernährungsorganisation FAO. Mit deren stellvertretenden Generaldirektor Alexander Müller spreche ich jetzt. Guten Tag.

Alexander Müller: Einen wunderschönen guten Tag.

Von Billerbeck: Die Welternährungsorganisation hat zehn Jahre lang in 169 Ländern die Nutztierrassen erfasst. Wo sind denn die meisten Rassen vom Aussterben bedroht?

Müller: Wir können generell sagen, dass wir bei unserem Überblick in, wie Sie eben schon gesagt haben, 169 Ländern über 7.600 unterschiedliche Nutztierrassen erfasst haben. Und das erschreckende Ergebnis ist, dass etwa 20 Prozent dieser Nutztierrassen im Augenblick gefährdet oder stark gefährdet sind. Und in den letzen Jahren, man kann als Faustformel sagen, ist ungefähr jeden Monat eine Nutztierrasse ausgestorben. Dies geht quer durch alle Kontinente. Wir haben natürlich nicht den vollkommenen Überblick, aber es ist eine besorgniserregende Entwicklung.

Von Billerbeck: Gibt es da Regionen, wo dieser Prozess stärker voranschreitet als anderswo?

Müller: Das ist natürlich auch immer eine Frage der Datengrundlage. Aber was sich bei unseren Beratungen herausgestellt hat, ist, dass insbesondere die Intensivierung der Tierzucht, das heißt die Selektion bestimmter Leistungsmerkmale ...

Von Billerbeck: Also die Massentierhaltung quasi.

Müller: Die Massentierhaltung, mehr Milchproduktion, mehr Fleischzunahme innerhalb kürzester Zeit - zu einer Verengung des genetischen Spektrums führt. Es gibt nur noch ganz, ganz wenige Hochleistungsrassen, die professionell gezüchtet werden, und dies verdrängt traditionelle Nutztierrassen vom Markt. Damit haben wir es mit einem Verschwinden zu tun, dass wirklich, wie ich gesagt habe, dramatische Ausmaße annimmt.

Von Billerbeck: Ich habe gelesen, dass weltweit die meiste Milch von der Holsteiner Kuh kommt und in Europas Schweineställen, da werden vor allem die Nachkommen des englischen Landschweins gemästet. Wie kam es denn dazu, dass gerade diese beiden Rassen so verschärft bei uns gezüchtet werden?

Müller: Man kann das auch im Bereich der Legehennen nachvollziehen, dass hier auch nur noch ganz, ganz wenige Zuchtlinien weltweit dominant sind. Und es ist immer der gleiche Mechanismus. Mehr Leistung, das heißt eine höhere Produktion von Milch, mehr Fleischproduktion, mehr Legeleistung, wird ganz gezielt gezüchtet, und dies führt dazu, dass die leistungsfähigsten Tiere für die Zucht, für die intensive Zucht und für die intensive Produktion ausgewählt werden, mit einem großen Verdrängungseffekt auf Nutztierrassen. Das kann man weltweit feststellen. Und das hat auch damit zu tun, dass immer mehr zu immer billigeren Preisen produziert werden sollte.

Von Billerbeck: Welche Konsequenzen hat denn das für diese hoch spezialisierten Tiere, die also nur noch auf eine bestimmte Funktion wie Milch oder Fleisch gemästet und gezüchtet werden?

Müller: Wissenschaftler haben mittlerweile auch die Besorgnis, dass diese Tiere zum Beispiel weniger gesund sind. Sie geben sehr viel Milch innerhalb kürzester Zeit, aber die Zeitdauer innerhalb dessen diese hohe Leistung erforderlich ist, und das ist für diese Tiere ja wirklich eine große Herausforderung, so große Mengen Milch zum Beispiel zu produzieren, wird immer kürzer, sodass die Tiere früher geschlachtet werden müssen und neue Tiere dann in den Ställe kommen müssen.

Was uns aber in diesem Zusammenhang beunruhigt, ist, dass wir über den Verlust von genetischen Ressourcen, so nennen wir die alten Nutztierrassen, eine Verengung des genetischen Spektrums haben. Und wir brauchen genetische Vielfalt aus zwei Gründen: Zum einen brauchen wir diese Vielfalt, um zukünftig auch in der Tierzucht Weiterentwicklung betreiben zu können. Diese genetischen Ressourcen sind nicht in der Natur vorzufinden, sondern sie sind der Erfolg Jahrhunderte langer Züchtungsbemühungen von Bauern, insbesondere von Kleinbauern. Und zweitens: Wir haben immer wieder neue Herausforderungen, wir brauchen Tiere, die Widerstandsfähig gegen neue Krankheiten sind. Auch hier muss man auf die klassischen Nutztierrassen, auf die traditionellen Nutztierrassen zurückgreifen können.

Von Billerbeck: Inzwischen versuchen ja aber gerade diese multinationalen Konzerne, die eine Monopolstellung bei der Welternährung haben, könnte man ja wahrscheinlich sagen, ihre Rassen, also diese hoch spezialisierten Tierrassen mit den robusteren Tierrassen zu kreuzen, um die einfach weniger anfällig zu machen gegen Krankheiten et cetera. Das klingt doch für das Erste vernünftig. Was ist falsch daran?

Müller: Das setzt zum einen voraus, dass es diese klassischen Nutztierrassen überhaupt noch gibt. Der Genpool, die herausgezüchteten Eigenschaften, der Erfolg der Züchtungsbemühungen von Kleinbauern über Jahrhunderte muss vorhanden sein, sonst ist eine Kreuzung, das Einkreuzung von Genen, von genetischen Eigenschaften schlechterdings nicht mehr möglich. Und zum anderen muss man aufpassen, dass dies nicht nur unter kurzfristigen Gesichtspunkten passiert. Kurzfristige wirtschaftliche Gesichtspunkte einerseits, wir brauchen aber andererseits eine langfristige Sicherung von genetischen Ressourcen. Was heute verschwindet, werden wir nie mehr wieder sehen.

Von Billerbeck: Sie haben es erwähnt, dass diese Nutztierrassen über Jahrhunderte von lokalen Bauern und auch zum Beispiel von Hirten gezüchtet worden sind. Wie lassen sich denn die unterstützen? Wie sorgen Sie dafür, dass diese Kleinbauern und Hirten unterstützt werden?

Müller: Das ist ein ganz wichtiger Hinweis auch in Zusammenhang mit dem Klimawandel zum Beispiel. Wir wissen, dass viele traditionelle Nutztierrassen an veränderte und teilweise sehr extreme Klimabedingungen angepasst sind. Wenn wir den ärmsten Bauern, den ärmsten Hirten auch in Zukunft eine Möglichkeit geben wollen, dass sie für sich kleinere Mengen für den Markt produzieren können, müssen wir diese Nutztierrassen schützen und auch weiterentwickeln. Das bedeutet, die internationale Staatengemeinschaft muss neben einem Überblick, welche genetischen Ressourcen haben wir noch, ein Unterstützungsgramm für die Ärmsten der Armen auflegen. Und da hakt es im Augenblick ganz gewaltig.

Wir haben zwar im letzten Jahr bei einer Konferenz in Interlaken in der Schweiz grundsätzlich Übereinstimmungen erzielt, einen globalen Aktionsplan aufzulegen, der muss jetzt aber mit Leben erfüllt werden, das heißt, es muss Geld her, damit man diese Nutztierrassen, die gefährdet sind, auf Dauer sichern kann.

Von Billerbeck: Welche Folgen hat es denn, wenn für die lokalen Bauern oder Hirten, wenn große Konzerne sich diese Gene von Tierrassen, auch dieser lokalen, robusten Tierrassen, patentieren lassen?

Müller: Das ist noch mal ein weiteres und ein neues und hoch aktuelles Thema. Es gibt die Tendenz, sich bestimmte genetische Eigenschaften patentieren zu lassen. Ist einmal ein solches Patent erteilt, oder sagen wir, würde es erteilt werden, dann könnten die kleinen Bauern diese Nutztierrassen nicht mehr weiterzüchten, weil sie sonst gegen Eigentumsrechte von großen Konzernen verstoßen würden. Und damit ist ihnen die Grundlage für ihre weitere züchterische Existenz genommen. Und deswegen sagen wir ganz deutlich, genetische Ressourcen sind Ergebnis der züchterischen Arbeit von Kleinbauern, und sie haben die Rechte auch an diesen züchterischen Fortschritten.

Von Billerbeck: Bei der Geflügelzucht, so konnte man das in einer Studie von Greenpeace lesen, da teilen sich den Markt der industriellen Tierproduktion inzwischen vier Megakonzerne. Wie kann man denn diese Megakonzerne eigentlich noch in die Schranken weisen und zum Beispiel verhindern, dass die diesen Genpool sich patentieren lassen?

Müller: Das ist ein ganz komplexes Fragenbündel. Zum einen ist bei der Patentierung von Eigenschaften, von Lebewesen natürlich der Gesetzgeber und ein Prozess auf internationaler Ebene gefordert. Zweitens kann man auch selbst bei Patenten den Zugang von Kleinbauern zu den Patenten, sie sind ja die Urheber des Wissens, so regeln, dass es einen Zugang von Kleinbauern dazu gibt. Das heißt einfach übersetzt, dass weiterhin gezüchtet werden kann, ohne dass für die Patente Gebühren bezahlt werden müssen. Ein drittes und ganz wichtiges Instrument ist, dass diese großen Konzerne, wenn sie sich diese Gene zunutze machen, den Kleinbauern einen Ausgleich zahlen für ihre züchterischen Erfolge.

Aber lassen Sie mich das mal ganz praktisch sagen, wir alle können etwas für die Erhaltung von Nutztierrassen tun, indem wir bei den Kaufentscheidungen unserer Lebensmittel auch immer wieder berücksichtigen, ob wir regionale Produkte und Produkte, die von Nutztierrassen kommen, die gefährdet sind, essen. Das mag zwar paradox klingen, aber wenn wir einen wirtschaftlichen Anreiz für die Zucht setzen und die Kleinbauern ihre Tiere dann auch vermarkten können, ist die Existenz leichter gesichert.

Von Billerbeck: Herr Müller, ließen sich die Tierarten auch retten, wenn man sie nicht mehr züchtet, sondern nur deren Erbgut quasi für Notfälle aufbewahrt?

Müller: Nein, da sehen wir überhaupt gar keine Möglichkeit, etwa über eine große Gen-Bank die Eigenschaften zu konservieren und dann, wenn man sie braucht, quasi aus dem Kühlschrank heraus zu holen. Es muss aktiv weitergezüchtet werden. Es müssen im Übrigen auch weitere Anpassungen an den Klimawandel stattfinden. Und von daher ist eine Gen-Datenbank erforderlich, aber sie kann überhaupt nicht ersetzen, dass Kleinbauern weiterhin Nutztierrassen züchten. Es braucht die enge Anbindung an die Zucht und an die Auseinandersetzung mit den täglichen klimatischen Bedingungen.

Von Billerbeck: Sie haben es vorhin erwähnt, dass seit der Jahrtausendwende, ich glaube, jeden Monat eine Nutztierart ausgestorben ist. Wie viel Zeit haben wir denn noch, um da eine Katastrophe zu verhindern?

Müller: Es ist höchste Zeit, jetzt zu agieren. Deswegen bin ich auch sehr froh, dass es uns letztes Jahr in Interlaken gelungen ist, den Grundsatzbeschluss herbeizuführen. Jetzt müssen die Staaten sowohl auf nationaler Ebene eigene Programme auflegen und die reichen Industrienationen müssen ihren finanziellen Beitrag leisten, damit die Ärmststaaten dieser Welt dies ebenfalls für die Nutztierrassen ihrer eigenen, sehr armen Kleinbauern tun können. Es ist keine Zeit mehr zu verschenken.