Das ist die Pariser Luft

Von Siegfried Forster |
Mit der Ausstellung "Air de Paris" feiert das Pariser Centre Pompidou sein 30-jähriges Bestehen. Gezeigt werden Werke von Künstlern, Landschaftsgärtnern und Designern, die nur eins gemeinsam haben: Sie sind entweder in Paris geboren oder haben hier lange Zeit gelebt. Thematisiert wird die französische Hauptstadt als Zentrum künstlerischen Schaffens.
"Airs de Paris" - so vieldeutig und chamäleonartig wie der Titel rattern auch die Kunst-Werke an uns vorbei. Gordon Matta Clark hatte bei seinem 16mm-Streifen anlässlich der Eröffnung des Centre Pompidou vor 30 Jahren vorhergesehen, dass das volksnahe Viertel sich in ein Schaufenster-Quartier verwandeln würde. Nicht träumen hätte er sich aber lassen, dass hier mittlerweile auch Obdachlosen-Zelte eine Heimat gefunden haben und selbst im Inneren des Centre Pompidou von Pennern und der sozialen Not die Rede ist. Für Daniel Birnbaum, Co-Kurator der Ausstellung, ist Gordon Matta Clark Teil dieser bis heute für den Kunstbetrieb so spezifisch aktiven Pariser Luft:

"Der hat ja im städtischen Raum Interventionen gemacht. Der hat Löcher in Gebäude gebohrt und Schnitte und ganze Gebäude abgebaut usw. Er ist ein Künstler, der sehr früh verstorben ist. Er hatte eine Arbeit gemacht über diesen Teil von Paris, wo er sich dafür interessiert, wie ganze Städte sich verändern, wenn zum Beispiel so ein neues Kulturzentrum gebaut wird. Er ist eine Inspirations-Quelle für viele junge Künstler. Wir zeigen diesen Film, wo es um das Loch in einem Gebäude hier in der Nähe geht, aber junge Künstler wie Pierre Huyghes oder der junge Thailänder Rirkrit Tiravanija interessieren sich dafür und haben kleine Arbeiten gemacht, die mit ihm zu tun haben.

Carsten Höller, ein deutscher Künstler, der oft in Paris ausgestellt hat, aber eigentlich kein Pariser Künstler ist, hat da eine sehr originelle Intervention gemacht, er hat einen Schnitt durch den ganzen Ausstellungsraum gemacht, so dass man vom ersten Raum durch die ganze Ausstellung gucken kann und man sieht dann wirklich 'L'air de Paris', man sieht die Stadt selbst. Und so atmet auch die ganze Ausstellung 'eine Luft' sozusagen."

Zusammen gehalten werden die Arbeiten mit dem Stichwort Paris. Alle hier präsentierten 73 zeitgenössischen Künstler sind entweder in Paris geboren, haben hier gearbeitet, gelebt oder sich von Paris inspirieren lassen. Ansonsten bewegt sich die Schau im universellen Niemandsland und versandet oftmals in der Interdisziplinarität. Rund um das Thema "urbanes Leben" geht es vom Internet weiter über eine farb- und tongebende Wetter-Glasscheibe bis zum klassischen Öl-Gemälde von Djamel Tatah:

"Wir sehen hier einige Figuren von isolierten Menschen. Das ist mein Blick auf den Menschen in der heutigen Gesellschaft. Wie leben die Menschen heute, welche Gefühle haben sie in dieser vernetzten, sehr aktiven Welt. Ich arbeite in Bezug auf dieses Gefühl der Einsamkeit, das man bei allen von uns feststellen und auf der Strasse beobachten kann. Selbst wenn man mit Leuten zusammen ist, ist man immer allein."

Nicht weniger als zehn Abteilungen haben die Kuratoren eingerichtet. Jedes einzelne Thema hätte eine eigene Sonderausstellung verdient: Ein Skateboard von Bertrand Lavier verweist auf "Neue öffentliche Sprachen und urbane Volkskulturen", die 131 verwundeten Globen von Thomas Hirschhorn symbolisieren "Weltkonflikte, Risiken und Unfälle", Landschaftsgärtner Gilles Clément und Patrick Blanc lassen vertikale Landschaften entstehen, Mathias Augustyniak alias MM interpretiert zusammen mit Dominique Gonzalez-Foerster das subjektive Metropolen-ABC "Alphavilles":

"Ja, ich denke, die Künstler können durch ihren Blick helfen, die Welt zu verstehen. Sie verleihen ihr eine poetisch-politische Vision. Ich denke, das ist wichtig. Ich glaube nicht, dass die Welt verrückt geworden ist. Es braucht einfach Zeit, sie zu verstehen. Früher ist man vielleicht ein Mal in seinem Leben nach China gereist oder zwei, drei Mal in die USA. Bei mir kann es sein, dass ich sieben, acht Mal im Jahr in die USA reise und drei, vier Mal nach China. Natürlich braucht man dann länger, um die Welt zu verstehen."

Valérie Mrejen und Saadane Afif thematisieren überspannte Identitäten, neuzeitliche Religions-Dogmen und Community-Terror. Für Kuratorin Christine Macel wird immer öfter spürbar und sichtbar, wie Künstler ihren Platz in der Stadt neu definieren und verteidigen müssen - bedroht von Fundamentalismus und einem Ausverkauf der Intimsphäre:

"Louise Bourgeois hat beispielsweise Häuser aus Marmor gebaut, mit winzigen Türen, als ob sie verhindern wollte, dass jemand ihr Haus betritt. Ihrem Werk gegenüber sehen Sie Zeichnungen von Koo Jeong A, die wie Schweizer Käse durchlöchert sind. Oder Anne-Marie Schneider mit ihren Frauenporträts, die in Mauern eingefasst sind. Werke, die diese Überlegungen illustrieren."

Selbst Raum und Zeit sprengende Themen wie urbane Ökologie, virtuelle Welten oder Biotechnologien finden in der Ausstellung Beachtung. Doch bedauerlicherweise werden sämtliche Themen oft nur allzu flüchtig gestreift. Übrig bleibt - mit Marcel Duchamps Flair getränkte - bedeutungsschwangere Pariser Luft und eine erstaunliche Anspruchslosigkeit. Noch einmal Co-Kurator Daniel Birnbaum:

"Ich glaube nicht, dass Künstler sich heutzutage als avantgardistische Truppe verstehen. Ich glaube, da gibt es sicherlich in anderen Teilen - wenn es um die neuen Technologien, die neuen Medien geht - wahrscheinlich Gruppen in der Gesellschaft, die sich deutlicher als Avantgarde verstehen."