Das ist der Gipfel!
Früher war alles ganz einfach. "Über allen Gipfeln ist Ruh", dichtete Goethe in einer Schutzhütte der grünen Illmenauer Berge Thüringens. "In allen Wipfeln spürest Du kaum einen Hauch; die Vögelein schweigen im Walde/ Warte nur/ balde ruhest Du auch". Eine schöne Vorstellung.
Hundert Jahre später kraxelte Luis Trenker auf allen möglichen Gipfeln der Alpen herum und erzählte im Fernsehen den Kindern davon, wie er mit dem Kirchmoser Sepp um ein Haar in eine Gletscherspalte gefallen wäre. Reinhold Messner schließlich traf am Mount Everest oder Nanga Parbat allenfalls mal die Spuren des geheimnisvollen Yeti im ewigen Schnee. Kurz: Der Gipfel - das waren Einsamkeit und Erhabenheit und Schweinekälte.
Heute aber tummeln sich Krethi und Plethi auf den Gipfeln dieser Welt und hinterlassen dabei tonnenweise Müll. Ganze Hundertschaften stürmen, nachdem sie dafür Tausende Dollar bezahlt haben, die höchsten Berge. Die Romantik ist längst dahin. Und damit auch die schöne Transzendenz, Sinn und Sinnlichkeit.
Während früher das schmucklose Kürzel "G3" nichts weiter als das halbautomatische Standardgewehr der Bundeswehr bezeichnete, steht heute G8 - einst G6 und G7 - für den exklusiven Club der wichtigsten Wirtschaftsmächte der Welt.
So ist es kein Zufall, dass die Metapher von den "Gipfeltreffen" und "Gipfelgesprächen" die politische Sphäre inzwischen weltweit erobert hat. Keine Woche vergeht mehr ohne "Integrationsgipfel", "EU-Gipfel", "Atomgipfel", "Koalitionsgipfel", "Nahostgipfel", "Ernährungsgipfel", "Islamgipfel", "Klimagipfel" oder den Gipfel aller Gipfel, den "Krisengipfel".
Hier und heute wäre, ganz aktuell, allerdings ein Hitzegipfel fällig.
Redete man unter Helmut Schmidt noch im Kleinen oder Großen Krisenstab miteinander, hier und da auch mal in der "Elefantenrunde" oder im "Spitzengespräch", so muss es heuer immer gleich ein Gipfel sein.
Hinter dieser inflationären Gipfelitis verbirgt sich eine ganz eigene Logik - die politische Gipfellogik. Denn der Gipfel insinuiert: Hier wird's entschieden und nirgends sonst. Hier, ganz ganz oben. Da, wo die Luft dünn wird und es eigentlich kaum auszuhalten ist ohne Sauerstoffflasche.
Es ist eine seltsame Mischung aus Habermasianischer Diskurserwartung, Bergsteigerehre und uralter Herrscherattitüde: Nur wenn sich die Chefs zusammensetzen, können endgültige Entscheidungen getroffen werden.
In Wirklichkeit aber vertagt sich ein Gipfel zuverlässig immer auf den nächsten. Frei nach Sepp Herberger: Der nächste Gipfel ist immer der Schwerste. Allerdings dauert der Gipfel nicht neunzig Minuten wie ein Fußballspiel, sondern mindestens einen Tag und eine Nacht. Gerne auch mal zwei.
Überhaupt, die Nacht: In ihr drängt es stets zur ultimativen Entladung zwischen Spitz und Knopf. Wem platzt zuerst der Kragen, wer schläft zuerst ein?
Da wir längst alle Gipfel-Profis sind, wissen wir: Die endgültige Rettung der Welt ist der Kompromiss, der schöne Allgemeinplatz als Aussichtsplattform für alle.
Denn zwischen all den Gipfeln liegen die Mühen der Ebene, wie Brecht sagt. Oder war es Kurt Beck? Herbert Wehner jedenfalls würde brummen: Wer auf den Gipfel hinaufsteigt, muss auch wieder runterkommen.
Die monatelangen Vorbereitungen dieser Gipfel muss man sich als mühsame Anstiege durch Unterholz und Geröllhalden denken. Nicht umsonst heißen die Diener ihrer Gipfelherren "Sherpas".
Schon fragen sich Historiker der empirischen Gipfelforschung, ob der Wiener Kongress von 1815 anders verlaufen wäre, wenn man ihn "Wiener Reichsgipfel", "Hofburg-Gipfel" oder gar "Kosakenzipfel" genannt hätte. Womöglich hätte Metternich am Ende gar nicht triumphiert.
Und wer weiß, wie die Französische Revolution ausgegangen wäre, wenn es zur rechten Zeit ein Gipfeltreffen zwischen Ludwig dem Sechzehnten, dem Grafen Mirabeau, Fouché, Danton, Marat und Robespierre gegeben hätte. Womöglich hätte man auf sich auf eine nachhaltige Revolutionsfolgenabschätzungskommission einigen können, Wiedervorlage 1799.
Vielleicht hätte es sogar einen alternativen Gegengipfel gegeben? Ähnliche Fragen stellen sich bei der tragisch missglückten deutschen Revolution von 1848. Zu spät.
Beim jüngsten G8-Gipfel in Heiligendamm aber war das Gipfelunwesen gleichsam zu sich selbst gekommen. Auf Meereshöhe null ging es derart in die Breite, dass gleich ganze Landstriche, inklusive eines riesigen Zauns, zum Gipfelgelände erklärt wurden. Die unschönen Bilder stehen uns noch vor Augen.
Deshalb fordern wir beim heiligen Luis Trenker: Der nächste Gipfel gehört auf die Zugspitze!
Reinhard Mohr, geboren 1955, schreibt für Spiegel Online. Zuvor war Mohr langjähriger Kulturredakteur des "SPIEGEL". Weiter journalistische Stationen waren der "Stern", "Pflasterstrand", die "tageszeitung" und die "Frankfurter Allgemeine Zeitung". Letzte Buchveröffentlichungen: "Das Deutschlandgefühl" und "Generation Z". Mohr lebt in Berlin-Mitte.
Heute aber tummeln sich Krethi und Plethi auf den Gipfeln dieser Welt und hinterlassen dabei tonnenweise Müll. Ganze Hundertschaften stürmen, nachdem sie dafür Tausende Dollar bezahlt haben, die höchsten Berge. Die Romantik ist längst dahin. Und damit auch die schöne Transzendenz, Sinn und Sinnlichkeit.
Während früher das schmucklose Kürzel "G3" nichts weiter als das halbautomatische Standardgewehr der Bundeswehr bezeichnete, steht heute G8 - einst G6 und G7 - für den exklusiven Club der wichtigsten Wirtschaftsmächte der Welt.
So ist es kein Zufall, dass die Metapher von den "Gipfeltreffen" und "Gipfelgesprächen" die politische Sphäre inzwischen weltweit erobert hat. Keine Woche vergeht mehr ohne "Integrationsgipfel", "EU-Gipfel", "Atomgipfel", "Koalitionsgipfel", "Nahostgipfel", "Ernährungsgipfel", "Islamgipfel", "Klimagipfel" oder den Gipfel aller Gipfel, den "Krisengipfel".
Hier und heute wäre, ganz aktuell, allerdings ein Hitzegipfel fällig.
Redete man unter Helmut Schmidt noch im Kleinen oder Großen Krisenstab miteinander, hier und da auch mal in der "Elefantenrunde" oder im "Spitzengespräch", so muss es heuer immer gleich ein Gipfel sein.
Hinter dieser inflationären Gipfelitis verbirgt sich eine ganz eigene Logik - die politische Gipfellogik. Denn der Gipfel insinuiert: Hier wird's entschieden und nirgends sonst. Hier, ganz ganz oben. Da, wo die Luft dünn wird und es eigentlich kaum auszuhalten ist ohne Sauerstoffflasche.
Es ist eine seltsame Mischung aus Habermasianischer Diskurserwartung, Bergsteigerehre und uralter Herrscherattitüde: Nur wenn sich die Chefs zusammensetzen, können endgültige Entscheidungen getroffen werden.
In Wirklichkeit aber vertagt sich ein Gipfel zuverlässig immer auf den nächsten. Frei nach Sepp Herberger: Der nächste Gipfel ist immer der Schwerste. Allerdings dauert der Gipfel nicht neunzig Minuten wie ein Fußballspiel, sondern mindestens einen Tag und eine Nacht. Gerne auch mal zwei.
Überhaupt, die Nacht: In ihr drängt es stets zur ultimativen Entladung zwischen Spitz und Knopf. Wem platzt zuerst der Kragen, wer schläft zuerst ein?
Da wir längst alle Gipfel-Profis sind, wissen wir: Die endgültige Rettung der Welt ist der Kompromiss, der schöne Allgemeinplatz als Aussichtsplattform für alle.
Denn zwischen all den Gipfeln liegen die Mühen der Ebene, wie Brecht sagt. Oder war es Kurt Beck? Herbert Wehner jedenfalls würde brummen: Wer auf den Gipfel hinaufsteigt, muss auch wieder runterkommen.
Die monatelangen Vorbereitungen dieser Gipfel muss man sich als mühsame Anstiege durch Unterholz und Geröllhalden denken. Nicht umsonst heißen die Diener ihrer Gipfelherren "Sherpas".
Schon fragen sich Historiker der empirischen Gipfelforschung, ob der Wiener Kongress von 1815 anders verlaufen wäre, wenn man ihn "Wiener Reichsgipfel", "Hofburg-Gipfel" oder gar "Kosakenzipfel" genannt hätte. Womöglich hätte Metternich am Ende gar nicht triumphiert.
Und wer weiß, wie die Französische Revolution ausgegangen wäre, wenn es zur rechten Zeit ein Gipfeltreffen zwischen Ludwig dem Sechzehnten, dem Grafen Mirabeau, Fouché, Danton, Marat und Robespierre gegeben hätte. Womöglich hätte man auf sich auf eine nachhaltige Revolutionsfolgenabschätzungskommission einigen können, Wiedervorlage 1799.
Vielleicht hätte es sogar einen alternativen Gegengipfel gegeben? Ähnliche Fragen stellen sich bei der tragisch missglückten deutschen Revolution von 1848. Zu spät.
Beim jüngsten G8-Gipfel in Heiligendamm aber war das Gipfelunwesen gleichsam zu sich selbst gekommen. Auf Meereshöhe null ging es derart in die Breite, dass gleich ganze Landstriche, inklusive eines riesigen Zauns, zum Gipfelgelände erklärt wurden. Die unschönen Bilder stehen uns noch vor Augen.
Deshalb fordern wir beim heiligen Luis Trenker: Der nächste Gipfel gehört auf die Zugspitze!
Reinhard Mohr, geboren 1955, schreibt für Spiegel Online. Zuvor war Mohr langjähriger Kulturredakteur des "SPIEGEL". Weiter journalistische Stationen waren der "Stern", "Pflasterstrand", die "tageszeitung" und die "Frankfurter Allgemeine Zeitung". Letzte Buchveröffentlichungen: "Das Deutschlandgefühl" und "Generation Z". Mohr lebt in Berlin-Mitte.