Das Idyll trügt

Rezensiert von Uwe Stolzmann · 28.02.2006
Eine Mischung aus Krimi und theosophischem Traktat präsentiert "Der nächtliche Rat", der neue Roman des Erzählers und Essayisten Dževad Karahasan. Der bosnische Autor erfreut mit den verschlungenen Pfaden seiner Prosa, den Anstiegen zu überraschenden Ausblicken. Er ärgert allerdings mit mancher Weitschweifigkeit, Dopplung und mit seiner Adjektiv-Sucht.
Ein Mann kehrt heim zu seinen Wurzeln. Der Mann heißt Simon Mihailović, er ist seit zwanzig Jahren Arzt in Berlin und dort glücklich verheiratet. Simon, der Bosnier. Irgendwann steigen Bilder aus der Kindheit herauf – das Gesicht seines Freundes Enver und der Anblick der Heimatstadt, Foča, in ein Tal gebettet, an zwei Flüsse geschmiegt. Die Bilder werden kräftiger, sie bedrängen ihn. Simons Frau rät, er möge für eine Weile nach Bosnien zurückgehen; sie dulde, sagt sie, "keine verdammte Stadt" zwischen ihnen.

Im August 1991 reist Simon Mihailović durch das zerfallende Jugoslawien, und mit ihm, noch unbemerkt, reist der Krieg. Ein Grenzpolizist schaut verwirrt in Simons deutschen Paß, er sagt: "Seltsame Touristen kommen auf einmal ins Land, gebe Gott, daß das gut ausgeht." Über die Landstraßen fahren Armeelaster und Panzerwagen, in der ersten Nacht wird der Arzt ein Rudel Hunde heulen hören.

Doch das Haus erkennt den Heimkehrer wieder, dieses schöne alte Haus, in dem Simon geboren wurde: der gepflasterte Hof mit den Kletterrosen am Tor, das ebenerdig kühle Magazin, in dem die Familie die Sommer verbrachte, die Treppe zur Veranda empor, in der Veranda Sitzbänke mit Kissen und gegenüber eine Reihe Türen, die in Kammern und Küche führen.

Auch Foča – in der Erinnerung ein Durcheinander von Gassen und Bauten, "planlos, unordentlich, unklar", und manchmal ein Netz von Falten wie im Gesicht eines Greises – scheint den Gast zu empfangen. Simon Mihailović spricht: "Die Welt ist wie eine schöne reife Pflaume", er ruft: "Leben! Leben!", doch das Idyll trügt. Die Bauernweiber am Morgen gehen nicht zum Markt, sie fliehen aus der Stadt; ein kahlköpfiger Mann mit einer Kuh am Strick murmelt: "Gott steh uns bei!"

Was ist geschehen? Eine Frau wurde ermordet, Bosnierin aus alter Familie und, wie sich zeigt, eine frühere Mitschülerin des Reisenden. Weitere Bekannte sterben; Simon, der Fremde aus dem Westen, gerät in Verdacht. Eines Abends wartet Enver vor seiner Tür, der Jugendfreund, jetzt ein Sufi-Mönch. Die beiden Männer debattieren und träumen miteinander, Tage, Nächte, sie geraten in Trance, und Simon erlebt eine Verwandlung: Gemeinsam mit dem Mönch betritt er eine unterirdische Welt, ein Zwischenreich, in dem sich die Seelen der Ermordeten treffen ...

Im Werk des Erzählers und Essayisten Dževad Karahasan -geboren 1953 in Bosnien-Herzegowina - gibt es zwei Konstanten. Die erste heißt Sarajevo; von der Belagerung der Stadt, ihren Traumata, berichtet er in mehreren Büchern. Sarajevo, das ist für Karahasan der Ort, an dem die Widersprüche von Islam und Christentum überwindbar scheinen. (Foča wirkt wie ein verkleinertes, auch entstelltes Abbild dieser archetypisch bosnischen Stadt.)

Die zweite Konstante mag das Interesse des Dichters fürs Übersinnliche sein. Nein, gewiss, er ist kein Spinner; eher ein skeptischer Esoteriker, einer, der die Gegensätze in der einen und ganzheitlichen Welt aufheben, ihre Konflikte entschärfen möchte.

Als Grenzgänger und Vermittler zeigt sich Karahasan uns auch in seinem Roman "Der nächtliche Rat", dieser Mischung aus Krimi und theosophischem Traktat. Wir freuen uns über die verschlungenen Pfade seiner Prosa, über die Anstiege zu überraschenden Ausblicken. Wir ärgern uns über manche Weitschweifigkeit und Dopplung und über die Adjektiv-Sucht des Autors. ("Der dünne Morgennebel hatte sich unter der frühen Sonne schon verzogen, aber unten im Tal hatte alles noch die sanften morgendlichen Rundungen, ohne scharfe und klare Konturen.")

Uns wird bang, wenn er zu tief hinab steigt in die Gefilde von Mystik und Metaphysik. Und wir leiden mit ihm, wenn er in schlichten Worten von seinem Schmerz erzählt, davon, was es heißt, in heutiger Zeit ein Bosnier zu sein.


Dževad Karahasan: Der nächtliche Rat
Aus dem Bosnischen von Katharina Wolf-Grießhaber.
Insel Verlag, Frankfurt/Main 2006. 334 Seiten