Das Heldentum des Rückzugs

22.02.2011
Der spanische Autor und Publizist Javier Cercas, selbst Jahrgang 1962, hat sich mit seinem neuen Buch eines historischen Datums angenommen, das die damalige Jugend Spaniens bis heute geprägt hat: Am 23. Februar 1981 stand die noch junge spanische Demokratie noch einmal am Rande des Scheiterns.
Am frühen Abend des 23. Februar 1981, während der Abstimmung über den neuen Ministerpräsidenten, stürmte eine bewaffnete Einheit der Guardia Civil unter Führung des Oberstleutnants Tejero das spanische Parlament. Mit dem Befehl "Alle auf den Boden" begann ein Drama, das siebzehneinhalb Stunden dauern und die junge spanische Demokratie an den Rand des Untergangs bringen sollte. Schüsse fielen. Alle legten sich auf den Boden - bis auf drei: der zurückgetretene, aber noch amtierende Ministerpräsident Adolfo Suárez, der Vizepräsident General Gutierrez Mellado und der Chef der Kommunistischen Partei Santiago Carrillo.

Fernsehkameras haben das Geschehen festgehalten, die Welt kennt sie. In den Bildern des schnurrbärtigen Uniformträgers mit der Pistole und des entmachteten Regierungschefs, der aufrecht sitzenbleibt, kristallisierte sich der historische Augenblick, in dem das Militär der jungen spanischen Demokratie zum letzten Mal wirklich gefährlich wurde.

Diesen Augenblick untersucht der Romancier und Publizist Javier Cercas in seinem ausführlichen und überaus klugen Buch in fast allen Facetten. Doch ihm ist vorrangig um die Geste des Ministerpräsidenten zu tun, "eine mutige und anmutige Geste, eine Geste der Rebellion und eine Geste souveräner Freiheit, eine für die Nachwelt bestimmte Geste". Sie vor allem ist das Objekt von Cercas’ anatomischer und gnadenloser Wahrheitssuche: das Heldentum des Rückzugs.

Denn Suárez, der es nur wenige Jahre zuvor sogar kurz zum Generalsekretär der Franquistischen Einheitspartei gebracht hatte, war allgemein als rückgratloser Opportunist bekannt, der es allen Recht zu machen versprach und alle belog. Auch die beiden anderen "Aufrechten", der General und der Kommunist, galten als Verräter an ihren eigenen Idealen: der eine bei den franquistischen Militärs, der andere bei den Parteilinken, die den parlamentstauglichen Eurokommunismus ablehnten.

Ausgehend von diesen drei emblematischen Figuren konstruiert Cercas die Geschichte dieses Putsches als historischen Dreisatz. Denn auch auf der Gegenseite hat man es mit drei Gestalten zu tun: dem Aristokraten General Almada, dem Offizier alter Schule General Milans del Bosch, und dem Fanatiker Oberstleutnant Tejero.

Die Ideologien und Beweggründe dieser Männer, ihre Charaktere, ihr Ethos und ihr Verhältnis zur Macht: Cercas sieht sehr genau hin, er seziert sie geradezu, der Titel seines Buches verspricht nicht zu viel. Durch seine spezielle Sichtweise, die gängige Mythen vom allgemeinen tapferen Widerstand gegen den Putsch mühelos durchschaut, gewinnt er der viel beschriebenen Episode des 23. Februar noch einmal eine Spannung und eine Tiefe ab, die ein politisches Sachbuch gemeinhin nicht hat. Zudem fasst er seine Kenntnisse, Betrachtungen und durchaus interessanten Mutmaßungen über bis heute ungeklärte Sachverhalte (wie die tatsächliche Beteiligung des Geheimdienstes) in eine bild- und variantenreiche Sprache, die manchmal fast klingt wie eine postmoderne Form des Heldenepos. (Dass die sehr spanischen komplexen Satzketten in ihrer Akribie und Rhythmik auch im Deutschen ihre Wirkung entfalten, ist das Verdienst von Peter Kultzen, der dafür einen Übersetzerpreis verdient hätte.)

Javier Cercas ist in erster Linie Romancier. Tatsächlich wollte er zunächst einen Roman über das Thema schreiben. Aber die Fakten erwiesen sich als spannender als die Fiktion.

Besprochen von Katharina Döbler

Javier Cercas: Anatomie eines Augenblicks. Die Nacht, in der Spaniens Demokratie gerettet wurde
Aus dem Spanischen von Peter Kultzen
S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2011
569 Seiten, 24,95 Euro