Das Hartz IV der schwarz-gelben Koalition

Von Dieter Rulff |
Wollte man der Reformpolitik der früheren rot-grünen Bundesregierung einen Namen geben, so würde man den von Peter Hartz wählen. Er steht für eine grundlegende Reform des Arbeitsmarktes, mit ihm verbindet sich der bis dahin tiefste Einschnitt in das deutsche Sozialsystem, in der Folge eine manifeste Krise der Sozialdemokratie und damit auch das Ende der Ära Schröder.
Wenn man in späteren Jahren einen Namen für die Reformpolitik der schwarz-gelben Regierung suchen sollte, so wird er wahrscheinlich Philipp Rösler lauten. Der FDP-Politiker will eine grundlegende Änderung des Gesundheitssystems zum Markenzeichen der schwarz-gelben Koalition machen. Dieser Umbau des Sozialstaates wird dem der Agenda 2010 in nichts nachstehen. Er greift sogar noch tiefer in das Gefüge der Gesellschaft ein, denn mit ihm ist ein doppelter Abschied vom Solidarprinzip verbunden.

Es wird Abschied genommen von der paritätischen Finanzierung durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Damit wird eine erfolgreiche Tradition des einst wegen seiner sozialen Stabilität gepriesenen "Modells Deutschland" zu Grabe getragen. Das Zusammenwirken der Tarifparteien war jahrzehntelang ein Garant des wirtschaftlichen Erfolges, nun wird sich dieser Erfolg von dessen Ende versprochen. Der Arbeitgeberanteil an der Gesundheitsversorgung wird eingefroren, Kostensteigerungen werden künftig von den Versicherten alleine aufzubringen sein. Und diese Kostensteigerungen werden enorm sein. Denn die Gesellschaft wird weiter altern und der medizinische Fortschritt wird weiter voranschreiten. Und diese Kosten werden für die da unten enormer sein als für die da oben.

Denn es wird auch Abschied genommen von dem sozialpolitischen Grundsatz, dass jeder für jeden nach Maßgabe seiner Leistungsfähigkeit einsteht. Künftig soll jeder, unabhängig von seinem Einkommen, in die Gesundheitskasse den gleichen Beitrag einzahlen. Das nennt sich Kopfpauschale und zu diesen Köpfen zählen nicht nur gleichermaßen arme und reiche, sondern auch kleine und große. Denn auch Kinder werden in dem Modell eigenständig erfasst. Nicht nur die soziale, sondern auch die Generationengerechtigkeit wird dadurch verletzt. Und diese Verletzung der Generationengerechtigkeit wirkt vor allem dort gravierend, wo sie die der sozialen Gerechtigkeit potenziert. Wer arm ist und auch noch Kinder hat, wird durch die Kopfpauschale doppelt geköpft.

Diese Kopfpauschale ist von jener erhabenen Gerechtigkeit, von der der französische Literat und Nobelpreisträger Anatole France bemerkte, dass sie Reichen wie Armen gleichermaßen verbiete, unter den Brücken zu schlafen, auf den Straßen zu betteln und Brot zu stehlen. Damit keiner der von der Gesundheitsreform Benachteiligten unter einer Brücke schlafen, betteln oder gar stehlen muss, verspricht Gesundheitsminister Rösler für die Kinder und die Armen einen Sozialausgleich über das Steuersystem. Wird, wer vorher in der Gleichheit der Kopfpauschale ungleich war, dadurch wieder gleich gemacht?

Nein, denn das bisherige System ist ein solidarisches Modell. Ein jeder hat den gleichen Anspruch auf Versorgung, unabhängig von seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Die Kopfpauschale hingegen ist ein fürsorgliches Modell, denn sie verweist die Armen und die Kinder auf die Ausgleichszahlung durch den Staat. Wie stark dieser Ausgleich sein wird, hängt von den Steuereinnahmen und dessen politischem Willen ab – und die Regierung will die Steuern bekanntlich senken. Und ist das System moralisch und finanziell erst einmal auf den Kopf gestellt, so ist es zur Aufsplittung in eine medizinische Grundversorgung und privat zu finanzierende Zusatzleistungen nur ein kleiner Schritt.

Die Gesundheitsreform hat alles Zeug, zum Hartz IV der schwarz-gelben Koalition zu werden – womöglich auch in den politischen Rückwirkungen.

Dieter Rulff, Journalist, Jahrgang 1953, studierte Politikwissenschaft in Berlin und arbeitete zunächst in der Heroinberatung in Berlin. Danach wurde er freier Journalist und arbeitete im Hörfunk. Weitere Stationen waren die "taz" und die Ressortleitung Innenpolitik bei der Hamburger "Woche". Von 2002 bis 2005 arbeitete Rulff als freier Journalist in Berlin. Er schreibt für überregionale Zeitungen und die "Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte". Seit 2006 ist er Redakteur der Zeitschrift "Vorgänge".
Dieter Rulff
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