Das Harmonium am Himalaya

Von Michael Hollenbach |
Zur christlichen Mission gehörte von Anfang an die Musik dazu. Oft noch stärker als das Wort, als die Predigt, sollte die Kirchenmusik die Herzen der Afrikaner, Asiaten oder Lateinamerikaner erreichen, um sie für den neuen Glauben zu gewinnen. Nun hat das Evangelische Missionswerk in Deutschland hat den musikalischen Kulturwandel in der Mission sogar zu einem Schwerpunktthema gemacht.
Nicht etwa in Harare, sondern in Hannover, im Kirchenamt der EKD, singen und tanzen die modernen Missionare. Sie sind zu ihrer Jahrestagung zusammengekommen, um der Frage nachzugehen, was das Harmonium am Himalaya, die Geigen am Ganges und die Posaunen in Papua machen. Es geht also um die Musik in der Mission, und Musik und Religion bildeten nicht nur bei den Missionaren, sondern auch bei zu Missionierenden oft eine Einheit, sagt die Theologin Verena Grüter:

"Als die europäischen Missionare im 19. Jahrhundert nach Asien oder nach Afrika kamen, waren dort alle Kulturen zutiefst religiös, also Religion war ein Zentrum der Kultur, das konnte man nicht voneinander trennen, so dass auch viele musikalische Ausdrucksformen religiöse Implikationen hatten, zum Beispiel Anrufung von Göttern, Fruchtbarkeitsriten, gerade in den Tänzen waren oft Fruchtbarkeitsriten verkörpert, die natürlich die Missionare zunächst einmal für nicht vereinbar gehalten haben mit dem Christentum."

Die Missionare der ersten Stunde setzten auf ihre Musik, auf deutsche Kirchenlieder. Diese Musik wurde allerdings beispielsweise in den deutschen Kolonien in Ostafrika von den Einheimischen zugleich als die Musik der Kolonialherren wahrgenommen. Besonders die Bielefelder Bethelmission baute bei der frohen Botschaft auf ihre Bläserchöre:

"Johannes Kuhlo, der Vater der evangelischen Posaunenmusik, hat ja auch Märsche komponiert oder adaptiert aus den militärischen Kapellen, die natürlich in Ostafrika auch gespielt haben, so dass die Christen da nicht nur christliche Lieder bliesen, sondern auch die Militärmusik der deutschen Kolonialherren rezipierten."

Der in Tansania tätige Missionar Nüßler notierte gegen Ende des 19.Jahrhunderts:

"Posaunenchöre waren am Meru unbekannt, und die Reaktion war deshalb enorm: Heiden sahen ihr Ende gekommen, Christen waren tief gerührt und vergossen Tränen, Hunderte, manchmal Tausende von Menschen wurden durch das Ereignis mobilisiert."

Vor allem die Instrumente der Missionare, ob Posaunen, Geigen oder das Harmonium, hinterließen einen bleibenden Eindruck, sagt Verena Grüter vom Evangelischen Missionswerk:

"Das Harmonium zum Beispiel, das überall gespielt wurde, galt als ein technisches Wunderwerk, man konnte da auf einmal vielstimmig auf so einem Ding spielen. Also mit dem Westen kommt der Fortschritt, die Macht, die neue Mode."

Musik, Macht und neue Mode stießen aber nicht überall auf große Begeisterung. Der Kulturwissenschaftler Benjamin Carstens war mehrere Monate in Papua-Neuginea auf den musikalischen Spuren der ersten deutschen Missionare, die dort vor rund 100 Jahren gewirkt haben. Und fast alle machten zuerst die gleichen Fehler:

"Einfach unreflektiert deutsche Choräle zu übersetzen, und auch noch anfangs daran festzuhalten, obwohl sie merkten, das die Gesangsergebnisse katastrophal waren."

Denn auf den pazifischen Inseln - nördlich von Australien - prallten zwei völlig unterschiedliche Musikkulturen aufeinander. Der Missionar Heinrich Zahn notierte damals die Reaktion der Dorfbevölkerung, nachdem die einheimischen Jugendlichen die neuen Lieder der Missionare gesungen hatten:

"Schweigt mit dem neumodischen Geheul. Ihr kräht ja wie die Lederkopfvögel, hockt euch zu ihnen auf die Bäume hinauf, aber verschont uns hier in den Häusern damit, ihr werdet nur Unglück über uns bringen mit eurem Gekrächze."

Heinrich Zahn hatte die deutschen Kirchenlieder in die Stammessprache übersetzt, aber keinen Erfolg mit dieser Methode.

Sie meinten, die von uns Weißen aus dem Deutschen übersetzten Lieder taugten nicht recht für Neuguinea, denn sie enthielten zu viele Gedanken. ‚Ihr Weißen wollt immer denken. Ihr singt mit dem Kopf, wir dagegen mit dem Herzen.’ Die Männer hatten vielleicht gar nicht so unrecht.

Daraufhin griff der Missionar die traditionellen, indigenen Melodien auf und ermunterte die Einheimischen, selber christliche Zeilen zu texten.

"Das hat den Damm gebrochen und daraus ist dann eine sehr euphorische Kompositionsbewegung entstanden, so dass in wenigen Wochen viele Hundert Lieder mit alten und neuen indigenen traditionellen Melodien entstanden sind."

Die einheimische Musik war vor allem durch den Gesang geprägt, berichtet Benjamin Carstens. Aber Heinrich Zahn stieß bei den Einheimischen auch auf ganz besondere Instrumente:

"Es gab da die Muscheln, die als Signalinstrument verwendet wurden, und er hatte sie ursprünglich genommen, um zu versuchen, das Singen der Choräle doch zu verbessern, und das hat sich dann verselbständigt und daraus ist dann ein Chor geworden, der dann auf Muscheln – rein biologisch müsste man eigentlich Schnecken sagen, aber man sagt Muscheln – Choräle gespielt werden, und zwar in der interessanten Form, dass jeder Bläser nur einen Ton hat, also auch seht gute Koordinierung erfordert."

Doch nicht alle Einheimischen folgten den Missionaren und der neuen Musik; viele blieben anfangs zunächst ihrer animistischen Religion und ihrer traditionellen Kultur treu.

"In dem kleinen Dorf, wo ich war, in Amungabi, da war es dann so, dass sich ein Teil der Dorfgemeinschaft abgespalten hatte und 300 Meter weg an der Biegung des Flusses ein neues Dorf aufgebaut hatte, um nicht so stark unter dem Einfluss der Missionare zu sein. Und die sind heute genau so Christen wie die anderen – in Papua-Neuguinea bekennen sich 90 Prozent zum Christentum – allerdings ist dort in dem anderen Dorf, da sind die indigenen Musiktraditionen noch viel stärker präsent."

Grüter: "Der ganz große Bruch war der Erste Weltkrieg, da ging das Vertrauen in die europäische Kultur verloren, und damit gleichzeitig die Kolonien, auch die deutschen Kolonien, das hat Umdenkungsprozesse ausgelöst, die sich in den Weltmissionskonferenzen widergespiegelt haben, besonders in Tambaran wurde gesagt, wir müssen die jungen Kirchen ermutigen, in ihrer eigenen Kultur das Evangelium auszudrücken."

Diese Bemühungen der jungen Kirchen erhielten einen großen Schub durch die Unabhängigkeitsbewegungen in Fünfziger-, Sechziger- und Siebzigerjahren. Allerdings verzichteten auch die meisten der jungen, evangelischen Kirchen in Afrika und Asien nicht auf die alten Missionslieder.

"Ich denke mal, dass die Christen ihre Identität gefunden haben in der Abgrenzung zu ihrer alten Kultur, das war ja für viele mit schmerzhaften Brüchen verbunden, die teilweise quer durch die eigenen Familien gingen, die neue Identität braucht eine neue Ausdrucksform, und diese neue Ausdrucksform haben die jungen Christen dann in dieser westlichen Kultur, sie haben das Christentum auch ihrerseits mit den westlichen kulturellen Formen identifiziert und darin ihre neue Identität gefunden."

Das gilt auch gerade für Indien, wo sich die christlichen Kirchen bis heute gegen ein hinduistisches Umfeld behaupten müssen. So hat sich in den Gemeinden der Gossner-Mission eine Liturgie erhalten, die in Deutschland zur Kaiserzeit gefeiert wurde. Allerdings singt man in den Gottesdiensten mittlerweile nicht nur die alten Missionslieder, sondern auch die so genannten Bhajans, gemeinsam gesungene Gebete. Hartmut Grosch von der Gossner-Mission war mehrmals als Kantor in Indien:

"Das sind Melodien, die uns vielleicht nicht ganz so ins Ohr reingehen, die harmonisch nicht in unsere Dur- und Moll-Systeme reinpassen, die diatonisch geprägt sind, ich habe einige von denen in den letzten Jahren gelernt und konnte sie da auch mitsingen und begleiten."

Lange Zeit mussten Missionare, die Elemente der indigenen Kultur, und damit auch der ursprünglichen Religion, aufnahmen, sich den Vorwurf des Synkretismus gefallen lassen, also dass sie die reine Lehre des Christentums zugunsten einer Vermischung mit anderen Religionen aufgeben würden. Doch mittlerweile ist eigentlich allen Theologen klar, dass man das Christentum nicht eins zu eins übertragen kann, sondern dass sich die Missionare immer auf die Kultur, Tradition und Mentalität vor Ort einlassen müssen.

Verena Grüter: "Spätestens seit der Weltmissionskonferenz in Salvador de Bahia 1996 ist deutlich, dass es das Evangelium nur kontextualisiert gibt, es gibt kein pures Evangelium, dass einer Kultur fremd gegenüber steht, sondern das Evangelium, das mit den Missionaren kam, war immer auch inkulturiertes Evangelium."

Das galt und gilt natürlich auch für die Musik in der Mission. Deutsche Kirchenlieder – gesungen in der afrikanischen Steppe oder am Strand von Papua-Neuguinea, waren den Einheimischen zunächst mehr als fremd, wurden aber im Laufe der Zeit genauso adaptiert, wie die Missionskirchen die indigenen Lieder christianisiert haben. Der Kulturwissenschaftler Benjamin Carstens sieht die Kirchen heute auf dem Weg zu einer heart-music: Die Akzeptanz einer Musik, die nicht von außen aufgesetzt wird, sondern Musik, die die Menschen in ihrer Kindheit und Jugend geprägt hat:

"Der Vorteil von diesem Konzept ist, dass man sagen kann, es ist auf jeden Fall sinnvoll, heart-music zu fördern in der Mission, in den einzelnen Kirchen, und das kann man machen, ohne paternalistisch zu sein. Wenn man nämlich jetzt hingeht nach Papua-Neuguinea und sagt, ihr dürft keine Posaunen mehr benutzen, weil das ist ja gar nicht eure Kultur und wir wollen die Fehler wieder rückgängig machen, dann wäre das ein genau so schwerer Fehler wie damals."

Heart-music, das ist jene Musik, zu der man eine persönliche Beziehung hat: Das kann indigene Musik sein, das kann die Posaunenmusik der Missionare sein.

Das kann aber in Zukunft auch jene christliche Lobpreismusik sein, mit der amerikanische, evangelikale Missionare vor allem in Afrika ganze Landstriche beschallen.

"Ich denke, dass die Musik einen ganz starken Einfluss hat. Gerade Kollegen aus Missionswerken, die in Ostafrika arbeiten, haben mir erzählt, dass so eine englischsprachige worship-Musik gespielt wird, dass Chöre oft nicht mehr original singen oder nur noch Solisten singen zu play back."

Über diese Entwicklung ist Verena Grüter vom Evangelischen Missionswerk gar nicht glücklich. Die CD und das Internet seien mittlerweile zum Harmonium des 21. Jahrhunderts geworden.