"Das hängt einem bis zum bitteren Ende an"

Von Claus-Stephan Rehfeld · 17.01.2013
Am 20. Januar 1958 gibt das Seeamt Lübeck seinen Spruch zu den Ursachen des Untergangs des Segelschiffs "Pamir" bekannt. Die Akten werden geschlossen. Doch die wenigen Überlebenden des Schiffsuntergangs haben ihr Leben lang mit der Katastrophe zu kämpfen.
Eine Erinnerung, Jahrzehnte danach.

Dummer: "Der Klaus Fredrichs zum Beispiel, der hat verdrängt. Oder HaGe Wirth, der hat verdrängt."

Wirth: "Man denkt nicht dran. Man denkt einfach nicht dran. Ich weiß nicht, ich bin kein Psychologe und wahrscheinlich hat sich Dummer mehr, viel mehr Gedanken gemacht als ich das gemacht habe, nich, und deswegen ist er jetzt Hüter des PAMIR-Schatzes, ne. Und ob er damit glücklicher geworden ist, weiß ich nicht."

Dummer: "Die Verarbeitung dieser ganzen Sache ... Erstens kann man so was gar nicht verarbeiten. Das hängt einem bis zum bitteren Ende an."

Dummer: "Können Sie sich vorstellen, dass sie jetzt mit dem Kopf aus dem Wasser gucken und über ihnen bricht eine 14 Meter hohe Welle zusammen? Wie wollen sie das beschreiben? Geht doch gar nicht."

Seeamt Lübeck: "Die Viermastbark Pamir, ein frachtfahrendes Segelschulschiff, ist am 21. September 1957 gegen 16 Uhr Mittelgreenichzeit im Atlantik auf Position 35° 57’ Nord, 40° 20’ West, etwa 600 Seemeilen westsüdwestlich der Azoren bei schwerem Nordnordoststurm im Sturmfeld eines tropischen Orkans gekentert und gesunken. Von der 86 Mann starken Besatzung konnten nur 6 Mann gerettet werden. Sie sind an den nachfolgenden Tagen aus zertrümmerten Rettungsbooten geborgen worden. Alle übrigen sind ums Leben gekommen."

Wirth: (holt Luft) "Phh ... Es ist alles relativ verdrängt, nich, auch die Zeit danach, das ist … das ist weg! Ne."

Hanns-Georg Wirth hat sich vor Jahren an die Atlantikküste zurückgezogen. Er fuhr als Leichtmatrose auf der PAMIR. Es war seine dritte Fahrt auf dem Schiff.

Dummer: "Zwei sind ja schon tot. Der Karl-Heinz Kraaz und der Folkert Anders, die jüngsten. Und die haben verdrängt. Wie alt waren die? Gerade mal 16, waren ja die beiden jüngsten."

Karl-Otto Dummer. Er hatte als Kochsmaat angeheuert. Es war seine zweite Reise auf der Viermastbark.
Wirth hat verdrängt, Dummer hat das Geschehen aufgearbeitet. Verarbeitet haben es beide nicht.

Die Gefühle kommen - wie die Ladung auf der PAMIR – gefährlich ins Rutschen.

Dummer: "Und das Kentern, das war ja nachher ein Ruck. Mit einmal macht es Plupp und lag auf der Seite. Das war so ne Sache von Sekunden. Der hat sich nicht langsam auf die Seite gelegt, der lag und auf einmal macht er so. Plupp."

Wirth: "Jetzt ging es ums Leben. Vorher ging es darum, dass Schiff am Schwimmen zu halten, nich, und dann ging’s ums eigene Leben. In der ersten Nacht sind wir x mal über Kopp gegangen mit dem Wrackstück, nich."


"Nächtliches Drama mitten im Atlantik / Deutsches Segelschulschiff Pamir funkt: SOS! Wir sinken! Mit 90 Mann an Bord!"

Die Schlagzeile der "Welt am Sonntag" am 22. September erreicht das Land zu spät, die PAMIR liegt schon lange auf dem Grund des Atlantiks.

Der Untergang schwappt in die Wohnstuben, in Kneipen, Büros, Schlafzimmer.

Daheim klammern sie sich an Nachrichten, Fehlmeldungen und dramatische Zeichnungen, da draußen klammern sie sich an kaputte Rettungsboote und eine Hoffnung.

Dummer: "Warum ich keine Angst hatte, weiß ich nicht. Ich war von Anfang an davon überzeugt, erstens, okay, jetzt bist du im Wasser, jetzt musst du sehen, wie ... und so weiter. Ja und dann war das Boot da, und das war der erste Schritt zur Rettung."

Wirth: "Auch als wir in dem zerschlagenen Rettungsboot waren, wir waren erst mit 10 und 5 sind übrig geblieben, da kam man nicht auf die Idee, dass ist das Ende. Nee, nee, man hat gedacht, du musst durch, nich. Und 5 haben es nicht geschafft und wir fünf haben es eben geschafft, ne."

Dummer: "Immer! Nicht irgendwann! Ich hatte die Hoffnung, gerettet zu werden, von dem Augenblick - für mich war das nur die Frage der Zeit."

Wirth: "Man war damit beschäftigt, zu Überleben, nich. Man hatte noch keine Zeit, nach hinten zu gucken. Man musste nach vorne gucken."

Bloß wo ist in der Nacht vorne?

Wirth: "Ja … aber nen Meter kann man gucken, ne."


Karl-Otto Dummer (1932-2009), Überlebender des "Pamir"-Untergangs
Karl-Otto Dummer, Pamir-Überlebender im Jahr 2006© picture alliance / dpa / Wolfgang Langenstrassen
Montag, 23. September, 8.35 Uhr Mittelgreenichzeit.
Lethargie im Rettungsboot PAMIR Nummer 5. Plötzlich Unruhe.

Wirth: "Und wir sahen plötzlich ein Schiff vor uns und dann sind wir losgeschwommen, haben das Boot Boot sein lassen und sind losgeschwommen. Und ich war so verrückt, da hatten wir noch den Sack mit dem Proviant, in den Dosen war das Hartbrot und der Traubenzucker. Und da waren, glaube ich, noch 18 Dosen im Sack, die habe ich hinter mir hergeschleppt. <vielleicht haben="" die="" da="" an="" bord="" nichts="" zu="" essen,="" keinen="" traubenzucker!=""> Bin ich geschwommen mit dem schweren Sack … und ich denk, ich habe den Sack auch nicht losgelassen, als wir dann die Lotsentreppe hochgegangen sind, ich habe den nicht losgelassen, nich. Das war schon praktisch so festgebrannt, nich, <was du="" hast,="" hast="" du,="" was="" kriegst,="" weißt="" nicht="">, ne. Und denn an Bord … dann fielen wir in uns zusammen. Und … das war Blödsinn, ne, absoluter Blödsinn! Aber das war so fest im Gehirn <nimm den="" sack="" mit!="" vielleicht="" haben="" die="" nichts="" zu="" essen!="">, ne."

54 Stunden nach dem Untergang der PAMIR werden 5 Überlebende aus dem kaputten Rettungsboot PAMIR Nummer 5 vom amerikanischen Frachter SAXON geborgen. Nach 72 Stunden wird ein weiterer Überlebender, Günter Haselbach, im kaputten Rettungsboot PAMIR Nummer 2 entdeckt.


</nimm></was></vielleicht>
"Und dann einen gesegneten Lebensweg"

27. September 1957. Frankfurt am Main, Flughafen. Die 5 Überlebenden aus dem Rettungsboot PAMIR Nummer 5 landen in Deutschland.

Der Orkan "Carrie" hat als laues Lüftchen das Festland erreicht, jetzt bestürmt sie die Öffentlichkeit.

Empfang Frankfurt, Main / Zwiebler: "Darf ich Sie begrüßen im Namen der deutschen Schiffahrt, im Namen der deutschen Seeleute. Wir freuen uns, dass Sie dem Leben zurückgegeben sind. Bekommen Sie bald wieder die Frische, die Sie früher als Jungs hatten. Und dann einen gesegneten Lebensweg, ohne das Schwere, dass Sie hinter sich haben."

Überlebender: "Ja, ich hoffe, dass Ende wird auch noch gut werden. Wenn auch nicht alles gut werden kann."

Mann: "Es wird alles gut werden, mein Junge."

Wirth: "Der Durst war schlimm, der Durst war schlimm. Und wir hatten kein Wasser, wir hatten nur trocken Brot, das wir nicht essen konnten, und Dextroenergen, was süß war, auch nicht gut. Aber zwischendurch hatten wir dann ein paar Schauer und dann haben wir im Boot gestanden … wenn Schauer war, dann war es relativ ruhig, ne. Naja, Regen aufgefangen mit dem Mund. Und das klappte. Das war nicht viel, aber wir hatten das Gefühl, dass man Wasser auf den Zungen hatte, ne."

Dummer: "Das, was mich am allermeisten fertig gemacht hat nach dem Untergang, das waren die Angehörigen, die dann von mir wissen wollen: Hat er sich gequält? Hat er geschrien? War er verletzt? Alle Details. Daß ich mich immer gefragt habe: Sage mal, wollen die sich selbst im Mitleid … ? Die wollen einfach das hören, dass ihr Sohn fürchterlich gekämpft hat. Da … ich bin ja dann nachher auch abgehauen, nichts wie weg hier. Denn das war kein Einzelfall, etliche waren das."


Der Spruch, aber vor allem danach

20. Januar 1958. Lübeck. Bürgerschaftssaal des Rathauses.

Seeamt Lübeck / Mann: "Ich verkünde folgenden Spruch des Seeamtes."

Nach sieben Tagen öffentlicher Sitzung und nach mündlicher Verhandlung stellt das Seeamt Lübeck fest.

Seeamt Lübeck / Mann: "Die >>Pamir << führte sämtliche Marssegel, Fock und mehrere Stagsegel und segelte hart angebrasst mit steuerbord Halsen am Winde, als der bisher etwa mit Stärke 9 wehende Sturm in kurzer Zeit stark zunahm. Das Schiff war diesem Winddruck mit den geführten Segeln, der Segelstellung, seinem Beladungszustand und dem nicht mit Ballastwasser gefluteten Tieftank stabilitätsmäßig so wenig gewachsen, dass es eine starke Backbord-Schlagseite erhielt."

Wirth: "Zum Beispiel der Segelmacher, der Jimmy Stober, der war 65, 66, uralt in unseren Augen, der sagte immer die ganze Reise schon: <nee, nee,="" min="" jung,="" das="" is="" mine="" letzte="" reis.=""> Und als das Schiff mit 35 Grad schon lag, sind dann noch mal welche durch die Kammern geschickt worden. Und er saß in seiner Kammer, und die war mittschiffs, und wollte gar nicht an Deck, nich. Und da erzählte einer, ich weiß nicht, wer das war, aber er erzählte uns: <jimmy sagt,="" es="" ist="" sowieso="" seine="" letzte="" reise,="" lass="" mich="" hier.=""> … Aber den haben sie dann auch an Deck überredet, an Deck zu kommen. Und wir sahen Jimmy dann noch, schwimmend, da hatte er sich das ganz gemütlich gemacht: Einen Riemen unterm Kopf und einen Riemen unter den Kniekehlen lag er auf dem Wasser und schwamm auf dem Rücken und hatte sich richtig aus Riemen ein schönes Floß gemacht. Das war der … ja, das war Jimmy. Der wollte seine letzte Reise, dann wollte er in Pension gehen. In Ruhestand."

Seeamt Lübeck / Mann: "Infolge Überschreitung ihres Böschungswinkels kam die – zum größten Teil lose geladene und während der Reise gesackte – Gerste trotz aufgebauter Längsschotte in Bewegung und ging in zunehmendem Maße nach Backbord über. Außerdem drang Wasser in die nicht überall verschlossenen und auf Backbordseite bereits eingetauchten Aufbauten, so dass auch deren Auftriebskraft verlorenging. Auf diese Weise ist das Schiff gekentert."

Dummer: "Man hat sich ja die ersten … bis zur Seeamtsverhandlung hat man uns hinten hochgehoben und dann, plupp, wurden wir nicht mehr gebraucht."

Wirth: "Ja, ja, vor allen Dingen, was danach mit einem passiert."

Die Medien bestürmen die Überlebenden, die Reeder der PAMIR ziehen sich zurück.


</jimmy></nee,>
Wasser im Blut

Schiffe gehen gelegentlich unter. Wer zur See fährt, weiß das, geht damit anders um.

Wirth: "Ja, das war von vornherein klar, dass ich weiter fahre. Ich, ich bin ja gefahren, um Kapitän zu werden, ich war ja noch nicht Kapitän zu der Zeit. Also musste ich ja weiter fahren, nich. Es machte mir Spaß. Das war einfach mein Traum, und der war nicht gestorben. Wir sagten: Pech kann man überall haben, ne."

Dummer: "September sind wir untergegangen, am 25. Januar bin ich wieder an Bord gegangen. Das weiß ich deswegen, weil ich am 24. Januar habe ich geheiratet und am 25. bin ich an Bord gegangen. Das war die ARIADNE."

Wirth: "Puuh … das war im Januar, Februar bin ich schon wieder losgefahren, ich glaube im Februar. Ich kann das sehen in meinen Unterlagen."


Brauchte das Land "Helden"?

Auf See fragt keiner danach: Wie war das eigentlich? Und wenn, dann ist das Thema schnell erledigt.

Alle Jahre wieder lassen die Medien die PAMIR im Orkan auftauchen und dann untergehen.

Wirth: "Ja, und es wurde dann doch in der Presse so viel aufgebauscht und da habe ich mich von Anfang an dagegen gesträubt. Das wollte ich nicht, nich. Und das will ich heute auch noch nicht. Sensation? Wir waren keine Sensation. Wir haben Glück gehabt."

"Und das war immer diese, diese Neugierde: <wie ist="" es="" gewesen?="" was="" habt="" ihr="" gemacht?=""> Dass war nicht richtiges Interesse, sondern Neugierde. Naja, Sie sind einer der wenigen, die das aus beruflichem Interesse fragen und auch Ahnung von der Materie haben, aber wenn da ein Reporter heute von Oberammergau berichtet und morgen von der See berichtet und übermorgen vom Weihnachtsfest sonstewo, dann gefällt mir das nicht. Das ist nur seinen Job zu tun und die Story zu verkaufen. Das ist für uns keine Story gewesen."

Dummer: "Ich sage jetzt mal: Wenn dieses Unglück 50 Jahre vorher passiert wär … erinnern Sie sich wahrscheinlich an die KOPENHAGEN oder an die ADMIRAL KARPFANGER, die spurlos verschwunden ist. Da wurde nicht annähernd so viel Getöse drum gemacht. Und jetzt plötzlich PAMIR SOS. Ich sage das jetzt mal überspitzt: Das war ein gefundenes Fressen! Endlich ist hier mal wieder richtig in der Seefahrt was los! Und dadurch, dass 50 junge Menschen an Bord waren, war das Interesse in der Bevölkerung auch anders als wenn da, was weiß ich, 40 Mann Stammbesatzung untergegangen wären, eben gemachte Seeleute, die wissen, dass wenn man zur See fährt, man eben auch untergehen kann."

Die Bundesrepublik der 50er Jahre - das "Wunder von Bern" findet seine Fortsetzung im "Nächtliche(n) Drama im Atlantik". Schnell werden "mythische Pfeiler der deutschen Geschichte" ausgemacht. Nationaler Sieg und nationale Tragödie – Emotionen als Identitätsstifter nach dem verlorenen Krieg.

"Was kann den Hörer die Geschichte lehren? Oder: Mit welchem Ohr sollte der Hörer die Geschichte heute hören?

Wirth: "Ach ja … nicht mit Sensationsgier, ne. Das ist … die Geschichte selber ist keine Sensationsgeschichte. Und wenn der Hörer das begreift, dass es eben eine Geschichte aus dem Leben ist, dann ist das gut, ne. Ich denke, dass soll er mitnehmen. Wir haben das erlebt, was die anderen nicht erlebt haben. Ja ... Lasst uns tunlichst in Ruhe. Ich meine, andere haben auch irgendwelche Schicksale gehabt. Das war Schicksal. Und die sind auch nie interviewt worden, weil es eben im letzten Weltkrieg waren es eben zu viele, nich, die alle ihr Päckchen zu tragen hatten und mit Sicherheit auch schlimmere Päckchen. Und da hat man auch keine Helden draus gemacht, nich. Und plötzlich war es eben … da waren 6 Mann übrig geblieben und denn wurden sie zum Helden gemacht. Und das war das, was mir persönlich immer gegen den Strich ging, nich."


</wie>
"Aus, Schluss, vorbei!"

Alle Jahre wieder kriechen die selbsternannten Experten aus ihren Kojen, steigen die Kritiker aus ihren Hängematten, sammelt sich das Publikum, reden sie vom Mythos PAMIR, von der Legende, romantisieren, streiten sich.

Jeder trägt sein Päckchen, jeder auf seine Weise.

Wirth: "Ja, man hat 50 Jahre nicht darüber geredet und plötzlich soll man drüber reden … das ist eben so. Ich habe mir da wirklich nie Gedanken drüber gemacht, wahrscheinlich ganz bewusst nicht, ne."

Dummer: "Es ist da und damit muss ich selber fertig werden. Aus, Schluss, vorbei. Und dat geht keinen wat an."

Das gilt für Krankheit und die letzten Stunden der PAMIR?

Dummer: "Genau so ist es, ne. Okay. Sehen sie mal zu, was sie da raus kriegen. Pffff."

Karl-Otto Dummer, der Kochsmaat, fuhr noch zwei Jahre zur See, schlug sich dann an Land durch.

Hanns-Georg Wirth, der Leichtmatrose, machte sein Kapitänspatent wie die anderen überlebenden Kadetten. Er fuhr 33 Jahre als Kapitän zur See.

Jeder ging seinen Weg. Das letzte Treffen aller Überlebenden des Untergangs der PAMIR fand 1958 statt.
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