"Das große Problem ist die Fremdzuschreibung"

Stefan Bräunling im Gespräch mit Klaus Pokatzky · 02.09.2011
Probleme und Krisensituationen auch ohne das "Aufdrücken von Psychopharmaka" lösen, das fordert der Psychologe Stefan Brünung für seine Patienten. Er ist Mitorganisator einer Tagung über Alternativen zur Psychiatrie, die gerade in Berlin statt findet und hat jahrelang im Berliner "Weglaufhaus" gearbeitet.
Klaus Pokatzky: Hoch im Norden Berlins in Frohnau gibt es seit 15 Jahren die Villa Stöckle. Das ist das einzigartige Weglaufhaus, eine Wohngemeinschaft von Menschen mit seelischen Problemen. Eine anti-psychiatrische Wohneinrichtung nennen die Mitglieder des Vereins zum Schutz vor psychiatrischer Gewalt ihr Projekt. Möglich wurde das Ganze durch die Millionenspende eines wohlhabenden Berliner Vaters, dessen Sohn sich während eines Psychiatrieaufenthaltes aus dem Fenster gestürzt hatte und dabei verstorben ist. Stefan Bräunling ist Psychologe und hat selber lange Jahre im Weglaufhaus gearbeitet. Guten Morgen, Herr Bräunling!

Stefan Bräunling: Guten Morgen!

Pokatzky: Herr Bräunling, Sie sind Mitorganisator einer Tagung jetzt in Berlin über Alternativen zur Psychiatrie. Das Motto lautet: Auf der Suche nach dem Rosengarten. Psychiater und Pädagogen und Psychologen und auch Politiker aus der ganzen Welt wollen da echte Alternativen zur Psychiatrie umsetzen. Was können die denn dabei von dem Berliner Weglaufhaus lernen?

Bräunling: Also, die lernen nicht nur vom Berliner Weglaufhaus, sondern, das ist schon ein Austausch mit Menschen, eben wie Sie gesagt haben, aus aller Welt, die selber betroffenenkontrollierte Projekte mit initiiert haben, mit leiten, mit angeregt haben. Das Weglaufhaus ist insofern jetzt mit der Einladende, aber nur eines von vielen Beispielen, die es weltweit gibt.

Pokatzky: Aber was leistet denn dieses ja doch in Deutschland immer noch einzigartige - es gibt noch keinen Nachfolger -, was leistet das denn nun ganz genau?

Bräunling: Das Weglaufhaus leistet eine betroffenenorientierte Arbeit, betroffenenkontrollierte Arbeit, Menschen in Krisen zu begleiten, ohne den Zugriff der Psychiatrie. Also, unsere Bewohnerinnen und Bewohner sind psychiatriebetroffene Menschen, die haben alle die Erfahrung mehrfach machen müssen, in der Psychiatrie zu landen in verschiedenen Ausnahmesituationen, und hier können sie es halt mal versuchen ohne Zugriff des Arztes, ohne das Aufdrücken von Psychopharmaka, auf eine selbstbestimmte Weise durch Krisensituationen durchzugehen beziehungsweise sich auf den Weg zu machen zu einem selbstbestimmteren Leben.

Pokatzky: Und wer hilft ihnen dabei, wer betreut sie in dieser Wohngemeinschaft?

Bräunling: In dieser Einrichtung werden sie betreut von Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern, ja, also, es ist eine professionelle Einrichtung. Wichtig ist uns eben nur, dass es ohne psychiatrische Angebote dort stattfindet.

Pokatzky: Was ist so schlimm an psychiatrischen Angeboten, wie Sie das jetzt nennen?

Bräunling: Aus der Sicht vieler Patientinnen und Patienten vieles - natürlich das hervorstechende Merkmal, was immer in der Kritik steht, sind natürlich die Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie, sei es die Medikation oder sei es einfach die geschlossenen Türen. Aber das Problem ist ja ein sehr umfassendes. Die Psychiatrie hat eben den gesellschaftlichen Auftrag, nicht nur Hilfe anzubieten, sondern auch zu kontrollieren und im Zweifelsfall zu strafen. Also, schon die Zuweisung als Patient und die Diagnostizierung in einem hierarchischen System durch Arzt oder Ärztin, die gesamte gesellschaftliche Stigmatisierung, die dahinter steht - das ist ja ein ganzes, großes Problemfeld. Die Ansiedlung von sozialen Schwierigkeiten im Bereich der Medizin birgt ja Schwierigkeiten ohne Ende, und auf jeden Fall hat das viel mit Autorität und Paternalismus zu tun, was für viele Leute eine richtig schlimme Erfahrung ist.

Pokatzky: Aber gibt es denn nicht Menschen, die eine so starke psychische Krankheit haben, dass sie doch vor sich selber geschützt werden müssen, etwa wenn sie sich selber verletzen unentwegt, oder Suizidversuche machen?

Bräunling: Es gibt auf jeden Fall natürlich erhebliche Schwierigkeiten und Menschen mit ganz, ganz großen Leiden und Leidensdruck, das ist überhaupt gar nicht in Abrede gestellt. Und wir machen ja auch zum Beispiel ein wirklich sehr intensives Unterstützungsangebot. Ist aber die Frage, ob das nötig ist, solche Zustände als Krankheit zu bezeichnen und eben, wie gesagt, mit hierarchischen Methoden und Zwangsausübung denen zu begegnen.

Pokatzky: Gibt es Menschen, die in die Psychiatrie eingeliefert werden müssen?

Bräunling: Ich würde es nicht entscheiden wollen. Ich glaube, mir ist der wichtigste Punkt daran, dass den Menschen die Entscheidungen, also die Leute beteiligt werden müssen, dass die Leute mit entscheiden können, was mit ihnen passiert, dass nicht ein Halbgott in weiß da steht und sagt: Ich weiß, was mit dir los ist und ich muss dich jetzt vor dir selber schützen. Sondern das ist mir das wichtigste, wenn Leute sagen, es gibt Zustände, in denen bin ich froh, dass mir jemand die Tür zusperrt, weil ich eben Schutz brauche, oder ich brauche ganz viel Begleitung von Freunden, und wenn das nicht da ist, dann muss eben ersatzweise ein professionelles Hilfesystem her. Also dem würde ich allem zustimmen. Aber das große Problem ist sicherlich dabei die Fremdzuschreibung.

Pokatzky: Was ist denn das Problematische daran, wenn ich bestimmte Störungen auch als Krankheit benenne?

Bräunling: Das zieht weite Kreise, also krank, die Zuschreibung als psychisch krank, die bedeutet ja erst mal eine Grenze zu ziehen zwischen dem, was noch als normal anerkannt wird, und dem, was eben als unnormal und behandlungsbedürftig und so, wie gesagt, fremd bestimmt wird. Das ist schon eine ganz andere Nummer, als zu sagen: Ich habe jetzt hier mir einen Arm gebrochen, oder eine Grippe. Das ist schon, dass jemand anderes mir sagt: Der Teil deines Seelenlebens, mit dem du dich selber bestimmst, das du selber als Ich und als Selbst bezeichnest, der funktioniert nicht, der ist krank. Du kannst gar nicht mehr richtig wahrnehmen. Zum Beispiel steckt das ja auch drin.

Das ist schon eine sehr, sehr schwierige Sache, und dann folgt ja daraus dann immer schon gleich, was für eine Behandlung jetzt angezeigt ist, ohne jetzt dann noch den Patienten, den als krank bezeichneten Patienten noch zu fragen. Es ist natürlich immer hierarchisch, es ist interessengeleitet, es steckt dann ja viel dahinter, dass die Krankheitsbegriffe schon auch mit Psychopharmaka-Einsatz behaftet sind und so - das ist schon aus unserer Sicht eine hochkomplizierte Sache und eine sehr problematische Sache, die mit der ganzen Stigmatisierung und so weiter, was dann folgt, wesentlich mehr Schaden anrichtet als Nutzen.

Pokatzky: Aber es gibt auch Traumata, Depressionen, posttraumatische Belastungsstörungen - wenn das keine Krankheiten sind, was ist es dann?

Bräunling: Wie gesagt, wenn Sie das für Zustände, die Sie selber erleben, so benennen wollen, und ich das sage, ich fühle mich gerade in einer Depression oder so was. Unbenommen, unser Hauptkritikpunkt daran ist die Fremdzuschreibung, dass den Leuten die Selbstbestimmung gänzlich abgenommen wird, viel stärker als wenn gesagt würde, ja, das ist jetzt eine vorübergehende Krisensituation - denken Sie an manche Diagnosen, wo klar ist, niemand gesteht den Menschen jetzt noch zu, da jemals wieder rauszukommen. Selbst eine Psychotherapie kriegt man kaum noch bewilligt, wenn man die Diagnose wiederkehrende Psychosen oder so was hat. Es wird schon sehr viel Abwertung damit betrieben.

Pokatzky: In der Einladung zu Ihrem Kongress heißt es: Das Erfahrungswissen der Psychiatriebetroffenen bildet eine einzigartige und unschätzbare Quelle, um radikal andere soziale Antworten zu finden. Welche Antworten sind das?

Bräunling: Zwei wirklich spannende Themen, die wir vorstellen können, ist das, was Sie auch schon angesprochen haben, der Umgang mit Suizidalität, und der Umgang mit Selbstverletzung. Das sind natürlich so die wirklich brenzligen Themen. Und da, wo natürlich es ganz leicht passiert, dass die Gesellschaft mit Zwangsmaßnahmen reagiert. Und hier haben wir also tatsächlich aus anderen Ländern Vorträge von Kolleginnen und Kollegen, die da neue Wege finden, behaupten, mit wirklich viel mehr persönlicher Beziehung, mit drauf eingehen, mit Versuchen, nicht so schnell mit Angst und Panik zu reagieren, mit natürlich hohem persönlichem Einsatz, kann man da Umgangsweisen finden, die davon wegkommen, gerade eben Selbstmordgefahr oder selbstverletzendes Verhalten sofort zu einem Argument für Zwangsmaßnahmen zu machen.

Pokatzky: Hat es denn in den letzten Jahrzehnten unter Psychiatern, also unter denen, die jetzt auch in geschlossenen Anstalten mit Menschen arbeiten, die seelische Probleme haben, hat es da auch teilweise ein Umdenken gegeben? Also, zum Beispiel, gerade was die Vergabe von harten Psychopharmaka angeht.

Bräunling: Ja, teilweise selbstverständlich. Es gibt ja schon seit den 70er-Jahren in Deutschland starke Bewegungen in Richtung Sozialpsychiatrie und Öffnung der Anstalten, gemeindenahe Psychiatrie und so weiter. Also es gibt in der Psychiatrie immer starke Bewegungen und Reformen. Manche davon sind sicherlich sehr, sehr hilfreich, manche würden wir immer noch kritisieren. Die Frage ist natürlich, ob so die Paradigmen der Psychiatrie - die Autorität, die unantastbare Autorität des Arztes, dass es im Austausch immer zu wenig Partizipation, zu wenig Aufklärung gibt -, ob diese Paradigmen tatsächlich bewegt werden. Und das ist, manchmal ist da was dran, oft ist da sehr wenig dran. Aber selbstverständlich gibt es auch Bewegung innerhalb der Psychiatrie.

Pokatzky: Sagt der Psychologe Stefan Bräunling. Er ist Mitorganisator der Tagung "Auf der Suche nach dem Rosengarten - Echte Alternativen zur Psychiatrie umsetzen." Sie findet heute und morgen statt, und Sie finden alle Informationen dazu im Internet unter weglaufhaus.de. Vielen Dank, Herr Bräunling!

Bräunling: Danke schön!

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