"Das Große ist, man selbst zu sein"

Von Gerd Brendel · 27.04.2013
Die Existenzialisten beriefen sich auf ihn. Theologen wie Karl Barth oder Dietrich Bonhoeffer verehrten ihn: den Philosophen Sören Kierkegaard. Am 5. Mai vor 200 Jahren wurde er in Kopenhagen geboren. Wichtige Erfahrungen sammelte der große dänische Denker auch in Berlin.
Der Berliner Gendarmenmarkt vor Schinkels altem Schauspielhaus liegt in der Abenddämmerung fast leer. Die Cocktailbar an der nächsten Ecke hat Tische auf den Bürgersteig gestellt. Die Nachkriegsfassaden rings um den Platz sind im Halbdunkel verschwunden. Und der Ort liegt da, wie ihn Sören Kierkegaard vor 170 Jahren zum ersten Mal überquerte, unterwegs zu seinem nahen Quartier ein paar Meter weiter.

"Er ist im Oktober 1841 nach Berlin gekommen zum ersten Mal nachdem er die Beziehung mit Regine Olsen beendet hat."

Wie sein Kollege und Landsmann im 19. Jahrhundert lebt der Schriftsteller und Philosoph Peter Tutvad heute in Berlin. In seinem letzten Buch erzählt er Sören Kierkegaards Biographie. Die unglückliche Liebesgeschichte mit Regine Olsen nimmt einen breiten Raum ein. Kurz vor seiner Abreise nach Berlin hatte Kierkegaard die Verlobung mit der zehn Jahre jüngeren Bürgerstochter gelöst: Aus Angst, ihrer Liebe nicht gerecht zu werden. Hier in Berlin genoss Kierkegaard die Anonymität der Großstadt, besuchte Theater und hörte Philosophie bei Schelling in der nahen Universität.

"Nach wenigen Monaten oder vielleicht nur Wochen hat er sich entschieden, zuhause zu bleiben, und hat die ersten Seiten von "Entweder - Oder" geschrieben."

"Entweder - Oder" - Kierkegaards erstes großes Werk: Aphorismen-Sammlung, philosophische Erzählung und Selbsterkundung.

"Mich hat es beeindruckt, dass er die Seele des Menschen so detailliert beschreiben konnte. Ich dachte manchmal, wenn ich selber schwermütig war, den Eindruck gehabt, dass er irgendwie schon dagewesen war. Und das war natürlich großartig, dass man sozusagen nicht allein war."

Wenn man eine Ahnung davon bekommen will, wie Sören Kierkegaard gearbeitet hat, muss man Peter Tutvads Kreuzberger Wohnung besuchen.

"Wir stehen in meiner Privatbibliothek – die ist eine Rekonstruktion von Sören Kierkegaards Privatbibliothek. Ich habe vielleicht zwei Drittel der Bücher, die er auch gehabt hat."

Goethe, Shakespeare, Novalis, Sokrates, ein in Leder gebundener Band pietistischer Predigten aus dem 18. Jahrhundert, Hegel. Gegen dessen Welterklärungssystem setzte Kierkegaard die Existenz des Einzelnen.

"Es ist sehr interessant, so eine philosophische Position zurück zu ergreifen, der einfach diesen Individualismus, den wir heute leben, erstmals philosophisch definiert hat."

Die Suche nach Berliner Spuren des dänischen Denkers führt in einen Villengarten in West-Berlin. Hier in der Galerie "Haus am Waldsee" organisiert die dänische Kuratorin Solvej Ovesen die Ausstellung "200 Jahre Sören Kierkegaard im Spiegel zeitgenössischer Kunst".

"Ich glaube viele Künstler, die hier in Berlin leben, haben das Projekt von Kierkegaard realisiert, sich von konventionellen Rollen zu befreien, von Zwängen."

Die beiden Teile der Ausstellung beziehen sich auf Kierkegaards Werk "Entweder - Oder". Kierkegaard entwickelt zwei Stadien menschlicher Existenz. Im ästhetischen Stadium lebe ich als Mensch unreflektiert und folge allein meinem Lustprinzip:

Unter dem Himmel der Ästhetik ist alles so leicht, so schön, so flüchtig. Kommt die Ethik angeschritten, so wird alles hart, kalt und unendlich langweilig.

... schreibt Kierkegaard in "Entweder - Oder"- aber das gedankenlose Glück hält bei ihm nicht lange vor. Es kommt zur Krise.

In Olvesens Ausstellung markiert die Videoinstallation "Broken Mirror" des Koreaners Lee Yong Baek den kritischen Moment. Ein Spiegel, der in tausend Scherben zu zerspringen scheint, sobald man sich ihm nähert.

"Diese Arbeit deutet direkt darauf hin, dass die Subjektivität eigentlich zerbrechlich ist."

Die Ausstellungsbesucher treten erschrocken zurück. Bei Kierkegaard kommt zum Schrecken die Verzweiflung und die Angst. – Angst: neben Existenz der zweite zentrale Begriff für Kierkegaard.

"Die Angst ist die Ambivalenz von Möglichkeit und Erschrecken und entsteht dadurch, dass der Mensch spürt, dass er in einer Relation steht, und zwar sich erlebt im Verhältnis zu seinem Leib, zu seinem Körper."

... erklärt der evangelische Theologe und Kierkegaard-Herausgeber Herrman Deuser.

""Weil der Mensch nicht nur Körper ist, tritt eine Spannung auf zu dem, was er tun könnte. Und diese Möglichkeit, was alles passieren könnte, was er oder sie tun könnte, hat die Funktion, Angst zu erzeugen. So dass man sagen könnte, es ist typisch für jeden Menschen, Angst zu haben und vor diesem Können sich zu fürchten."

Verzweifelt über mein scheinbar sinnloses Dasein, sehe ich mich vor eine Wahl gestellt: Egal wie, ich muss mich zu mir selbst in Beziehung setzen. Ich muss mich wählen, als der, der ich sein will. Bleibe ich "Ästhet" - oder entscheide ich mich dafür, verantwortlich zu handeln und in das ethische Stadium einzutreten?

Das Ästhetische in einem Menschen ist das, wodurch er unmittelbar das ist, was er ist; das Ethische das, wodurch er das wird, was er wird.

"Lebe ich eher meine Haltung ästhetisch aus? Wie ich mich kleide , wie ich spielerisch mit meinen Identitäten umgehe oder - wie der Ethiker bei Kierkekaard - bin ich eher meinen ethischen Zielen treu und möchte ich durch Repetition bestimmter Verhaltensweisen die Welt auch ein bisschen verändern oder verbessern, und möchte ich zwischen Gut und Böse wählen?"

Aber auch der Mensch als Ethiker scheitert bei Kierkegaard. Die Angst bleibt und wächst mit jeder Entscheidung. Verantwortliches Handeln bedeutet bei Kierkegaard – schuldig werden. Einen Ausweg sieht Kierkegaard im religiösen Existenzstadium.

"An Kierkegaard ist und bleibt interessant, dass er unter Bedingungen der Moderne fragt, was ist Christentum, genau genommen."

Eben kein Glaube, den man irgendwie logisch beweisen könnte.

"An Auferstehung zu glauben, ergibt sich nicht aus dem historischen Befund, denn es hätte ja so sein können, aber es hätte auch ganz anders sein können. Das heißt, die Wahrheit eines historischen Ereignisses ergibt sich nicht unmittelbar aus den Fakten. Wie man dann aber wie in der Theologie mit Behauptungen wie Auferstehung oder Wunder umgeht , findet dann seine Lösung, wenn man auf einer anderen Ebene operiert, nämlich der der Existenz. Das heißt, dass man einer Wahrheit begegnet. Also objektive Vermittlungen treten zurück gegenüber der subjektiven Evidenz, so könnte man das formulieren."

Glaube

... definiert Kierkegaard

Glaube ist gerade der Widerspruch zwischen der unendlichen Leidenschaft der Innerlichkeit und der objektiven Ungewissheit.

Sören Kierkegaard: Seine schonungslose Selbstanalyse, seine Sicht auf das Individuum, auf die menschliche Existenz und sein radikal subjektiver Glaube lassen ihn für den Philosophen, die Künstlerin und den Theologen zum modernen Zeitgenossen werden. Dass Kirkegaard selbst seinen eigenen moralischen Ansprüchen nicht immer gerecht wurde, ist Teil seiner ganz persönlichen Verzweiflungsgeschichte. Dazu gehören seine Frauenfeindlichkeit und Kirkegaards antisemitischen Ausfälle in den Tagebüchern. Zu der Geschichte seiner Verzweiflung zählt auch die Kirchenkritik, die nach seiner letzten und dritten Berlinreise immer bitterer wird. Noch auf dem Sterbebett hadert er mit seiner Kirche und schlägt das Abendmahl, das ihn der Geistliche reichen will, aus.

"Er ist modern, aber auch antiquiert. Er ist zu spät gekommen und zu früh gekommen."

... sagt Kierkegaards Landsmann Peter Tudvad. Kierkegaards Maxime allerdings hat auch zu seinem 200. Geburtstag nichts an Aktualität eingebüßt:

Das Große ist, nicht dies oder das zu sein, sondern man selbst zu sein.
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