Das große Gähnen

Von Martin Ahrends |
Stacheldraht? Stasi? Ein Denkmal, das an die DDR erinnert, könnte davon erzählen. Es könnte aber auch etwas anderes darstellen: Halbschlaf durch Bevormundung, Warten in einem Wartesaal zweiter Klasse. Für den Publizisten Martin Ahrends fühlte sich die DDR wie ein muffiger Innenraum an.
Manchen bringt es um den Schlaf, an Deutschland zu denken, mich macht es schläfrig, wenn ich an das Stück Deutschland denke, wo ich meine ersten dreißig Jahre gelebt habe. Mein DDR-Denkmal wäre das Sinnbild eines großen Gähnens.

Der Historiker-Blick konzentriert sich auf das, was geschah und was davon heute noch erkennbar ist: auf den internen Terror, wie er in den Haftanstalten zu besichtigen, wie er in den Fluchtgeschichten dokumentiert ist. Ebenso wichtig fürs Verständnis unserer DDR-Biografien wäre das, was nicht geschah. Das war es übrigens auch, was einem westlichen DDR-Besucher ins Auge sprang: Das Ungetane allenthalben!

Spätere Generationen könnten sich in diese DDR von innen her versetzen, wenn ihnen ein ganzes Land als muffiger Innenraum fühlbar wird. Wenn ihnen sinnfällig wird, dass man dort in einem Gehege lebte, mit dem Nötigsten versorgt, auch mit ein bisschen Auslauf, doch ohne die Chancen und Gefahren der freien Wildbahn.

Wie wäre es mit dem Sinnbild von einer Art Zoo: Ich sehe einen jener verplombten Reisebusse, die durch Ostberlin fuhren, aus denen man uns betrachtete und fotografierte wie eine fremde Spezies. Auch dieser Blick aus dem Westbus hinab in ein aufblickendes Ostgesicht, dieser historisch alltägliche Blickwechsel zwischen den Brüdern und Schwestern wäre ein Denkmal wert.

Wesentlich effizienter als die Agitation zum "sozialistischen Wettbewerb" war das flächendeckende Misstrauen der Herrschenden gegen jede Art von Initiative, sei sie politischer, wirtschaftlicher, wissenschaftlicher oder künstlerischer Art. DDR-Gedenken geht also fehl, wenn es allein nach Taten oder Untaten sucht, anstatt auch zu sehen, was nicht stattfinden durfte: All die abgewürgten, verbogenen Lebensläufe, die Fehlstellen, Abbrüche, Regressionen und Resignationen, die auch ein Erbe dieses Staates sind.

Es war ein Land von Opfern und Tätern, vor allem aber von Nichttätern. Es gab das Nichtstun aus Mangel an Motivation und das Nichtstun als Verweigerung, im Effekt sehen sich beide Haltungen ähnlich. Die nach dem verbreiteten Prinzip lebten "Privat geht vor Katastrophe", können nun als Verweigerer durchgehen.

Die wirklichen politischen Verweigerer einer DDR-Karriere melden sich selten zu Wort, sie wären in der kollektiven Erinnerung so gut wie nicht vorhanden, tauchten sie nicht dann und wann in literarischen Werken auf. Sie sind den unentrinnbaren Verhältnissen weder auf den Leim gegangen, noch haben sie sich erpressen oder korrumpieren lassen, sie zu unterstützen. Sie sind an dem real existierenden Sozialismus ebenso gescheitert, wie dieser letztlich an ihnen gescheitert ist. Sie wären ein Denkmal wert.

"Wir haben die Morgenröte entrollt, um in der Dämmerung zu wohnen", schreibt Volker Braun in seinem Stück "Übergangsgesellschaft". Ein DDR-Denkmal, das nicht nur von Stasi und Stacheldraht erzählen soll, könnte von einem Halbschlaf durch Bevormundung erzählen, vom Dämmerlicht in unserem Wartesaal zweiter Klasse.

Die DDR fühlte sich auch gemütlich an, denn Freiheit ist riskant, bedrohlich und gefährlich. Wenn den Nachgeborenen fühlbar würde, wie verdammt bequem es ist, ein Untertan zu sein, dann wäre die Erinnerung an dies halbe Nachkriegsland doch zu etwas nütze. Ich stelle mir ein Denkmal vor, das in Ost und West gleichermaßen verständlich ist und auf etwas Verbindendes zielt, auf das gemeinsame Projekt Freiheit zum Beispiel. Mein DDR-Denkmal wäre eines von der Behaglichkeit, die eine Diktatur ihren Mitläufern zu bieten hat.

Oder von diesem ungeheuren Wagnis, mit einer brennenden Kerze auf die Straße zu gehen.

Martin Ahrends, Autor und Publizist, geboren 1951 in Berlin. Studium der Musik, Philosophie und Theaterregie. Anfang der 80er Jahre politisch motiviertes Arbeitsverbot in der DDR. 1984 Ausreise aus der DDR. Redakteur bei der Wochenzeitung Die Zeit und seit 1996 freier Autor und Publizist.
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