Das große Beben

Rezensiert von Susanne Billig |
18. April 1906 - ein Erdbeben erschüttert San Francisco und zerstört weite Teile der Stadt. Es ist die erste große Naturkatastrophe des 20. Jahrhunderts, die fotografisch dokumentiert wird. In seinem Buch "Ein Riss durch die Welt" zeichnet der Journalist Simon Winchester den Ablauf der Katastrophe hautnah nach und belegt deren Auswirkungen bis in die heutige Zeit.
Es gibt nur wenige Katastrophen, die sich so sehr im öffentlichen Gedächtnis festgesetzt haben wie das Erdbeben am 18. April 1906 in San Francisco. Es war eine der ersten Naturkatastrophen, die durch Fotografien dokumentiert wurde. Auch einige Naturwissenschaftler wurden zu Zeitzeugen, es liegen also Beobachtungen aus einer modern-wissenschaftlichen Perspektive vor. Und vor allem gab es damals schon Medien, die die Katastrophe weit über den eigentlichen Ort des Geschehens hinaus bekannt machten. Insofern war das Beben von San Francisco ein modernes Ereignis – die erste große Naturkatastrophe zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Und genau das ist der Grund, warum Simon Winchester dieses Ereignis als Thema seines neuen Buches ausgewählt hat.

"Ein Riss durch die Welt" ist kein Bildband, kein nüchternes Sachbuch – auch wenn es im Anhang ein Extrakapitel über Erdbebenvoraussage, ein Glossar und ein Literaturverzeichnis gibt. In erster Linie aber versteht es der Autor meisterhaft, uns wie in einem Roman mitten in das Geschehen hineinzuführen. So erlebt man den erschreckenden Ablauf der Katastrophe hautnah mit: Erst ließ das Beben Straßen und Häuser einfallen, dann kamen verheerende Brände auf. Eine zweieinhalb Kilometer lange Feuerwand durchschnitt San Francisco, in den Himmel stieg eine dreitausend Meter hohe Rauchwolke, die Panik war unvorstellbar.

San Francisco wurde wieder aufgebaut, doch Simon Winchester spürt den langfristigen ökonomischen und gesellschaftlichen Folgen der Katastrophe für Amerika und die gesamte Welt nach. Die etwas überspannte amerikanische Religiosität, die vielen Pfingstbewegungen, erklären sich vor dem Hintergrund der Endzeitstimmung nach der Katastrophe. Das Erdbeben von 1906 bedeutete auch das Ende der Vormachtstellung San Franciscos unter den Städten des amerikanischen Westens. Die Künstler wanderten aus, nach New York und vierhundert Kilometer weiter südlich: Ohne das Beben wäre Los Angeles nie so mächtig geworden, wie es heute ist.

Zum zweiten markierte das Beben auch den Beginn einer neuen Geologie, wie Winchester erläutert. Das Erdbeben, das 1755 Lissabon erschütterte, wurde noch Gottes Zorn zugeschrieben – das Beben von San Francisco aber traf auf eine moderne Wissenschaft, in der die Seismologie eine erste Blütezeit erlebte. Unter anderem durch das Ereignis in San Francisco und die nachfolgende Aufarbeitung konnten Wissenschaftler begreifen, was hier eigentlich passiert war: Die Stadt hat eine prekäre geologische Lage am San-Andreas-Graben. An dieser Verwerfung reiben sich zwei gigantische Erdplatten aneinander, die Nordamerikanische und die Pazifische Platte. Dabei entstehen ungeheure Spannungen, die sich unweigerlich früher oder später entladen.

Die große Stärke von Winchesters Büchern liegt darin, eine atemlose Mischung von persönlichen Anekdoten, Wissenschaftsgeschichte, Forscherbiografien und Zeitzeugenberichten zu entfalten. Winchester wird nie abstrakt, jede wissenschaftliche Erläuterung wird von ihm eingebunden in die Lebensgeschichte des Forschers, in dessen Eheprobleme oder Leidenschaften. Mit Winchester fühlt man sich immer mitten im Geschehen. Für das Buch "Ein Riss durch die Welt" reiste der Autor den ganzen San-Andreas-Graben entlang. Als Leserinnen und Leser haben wir also zu weiten Teilen einen Reisebericht vor uns, der wunderschön und poetisch geschrieben ist und mit unterhaltsamen Anekdoten nicht spart.

Der Autor berichtet vom kalifornischen Galgenhumor, stöbert Boutiquen auf, die sich "Epicenter" nennen, und Restaurants, die ihre Steaks "Stärke sechs" und das Dessert "Nachbeben" taufen. Winchester ist ein Meister darin, Katastrophe, Wissenschaft, Nebenschauplätze und Anekdoten miteinander zu verknüpfen.

Winchesters Buch will aber auch als Mahnung gelesen werden, denn ein erneutes gewaltiges Erdbeben in San Francisco ist nur eine Frage der Zeit. Wir sollten, so sagt der Autor eindringlich gegen Ende des Buches, einen bescheideneren Platz auf diesem Planeten einnehmen. Die Stadt San Francisco hat einiges für den Katastrophenschutz getan – doch Winchester hat Vororte besucht, in denen die Menschen ihre adretten Reihenhäuser in absoluter Sorglosigkeit auf einem Pulverfass errichtet haben. Wir leben hier nur mit Duldung der Erde, sagt Winchester - und wir sollten uns dessen bewusst sein.

Simon Winchester: Ein Riss durch die Welt
Amerika und das Erdbeben von San Francisco 1906

Aus dem Englischen von Harald Stadler
Knaus
444 Seiten 22,95 Euro
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