Das größte Abenteuer meines Lebens

Von Peter Marx · 16.12.2007
Bernhard Vogel ist nicht mehr der Jüngste. Mit bald 75 Jahren gehört er sogar zu den älteren deutschen Politikern. Doch daraus den Rückschluss zu ziehen, er lässt es sich gut gehen und genießt seine Freiheiten von Ämtern und Würden, ist völlig falsch.
Der Mann, der - einmalig - es schaffte, in zwei verschiedenen Bundesländern Ministerpräsident zu werden, kann scheinbar ohne einen prallen Terminkalender nicht leben. Als Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung behält er außerdem den engen Kontakt zu den politischen Machtzentralen und sein Rat ist nicht nur in der CDU gefragt wie selten vorher.

Der Bruder:

"Wir haben halt zu Weihnachten das Schienennetz hergestellt und unsere Wagen drauf. Wir hatten zwei verschiedene Lokomotiven und das mag dann schon sein, dass ich einen Fahrplan entworfen habe, weil ich gesagt habe; Wenn wir hier Bahn spielen, dann müssen wir auch einen Fahrplan haben. Und mein Vater und der Bernd waren mehr dafür, dass sie einfach fahren. Also wieder ein ziemliches Korn Wahrheit, wie so Geschichten sich so entwickeln."

Der Nachfolger:

"Er ist ein ganz sympathischer, menschenoffener, liebenswerter Mann, der aber ebenfalls als Politiker und als Mensch auch seine Grundsatzüberzeugung lebt und die auch mit Nachdruck unterstützt und durchsetzt."

Vier Tage bis zum Bundesparteitag der CDU. Bernhard Vogel sitzt an seinem nussbaumfarbenen Schreibtisch, sortiert Akten und sucht das CDU-Grundsatzprogramm, an dem er mitgearbeitet hat. Sein Schreibtisch: wie geleckt. Kugelschreiber, Akten, Kleber, alles ausgerichtet, sortiert, genau an dem Platz der dafür vorgesehen ist. Vogel sitzt im vierten Stock der Konrad-Adenauer-Stiftung. Ein Eckzimmer mit direktem Blick auf den Tiergarten und wenn er sich leicht – nach links -vorbeugt, zur CDU-Parteizentrale auf der gegenüberliegenden Seite. Ein Fenster ist gekippt, der Lärm der Klingelhöfer Straße dringt leise ein. Seit 2001 führt Vogel wieder die Geschäfte der Parteistiftung, ehrenamtlich und von morgens um acht bis spät in die Nacht. Täglich - und wenn es sein muss auch an Wochenenden. Von wegen Altenteil für einen rüstigen Rentner. Vogel lehnt sich in den milchkaffee-braunen Ledersessel zurück, dementiert mit Händen und Worten:

"Nein, das wäre ungerechtfertigt. Das wird gelegentlich von Leuten, die die Stiftungsarbeit nicht kennen, gesagt, aber das trifft es in der Tat nicht. Und im übrigen, ich habe immer etwas Mühe damit, mir selbst zu sagen, dass ich 74 Jahre bin und 75 Jahre alt werde. Muss mich dazu gelegentlich zwingen. Ich fühle mich nicht so, das gebe ich offen zu. Ich will ja nicht leichtsinnig sein, sondern will ja akzeptieren, wie alt ich bin. Aber im Alltag denke ich da nicht jeden Tag daran und macht mir diese Aufgabe, so mühsam ist auch ist, insgesamt Spaß Weil ich in meinem ganzen Leben die Erfahrung gemacht habe. Eine wahre Freude ist eine ernste Sache."

Er steht auf, streckt sich leicht, eine verschleppte Grippe plagt ihn und lässt ihn gebrechlicher erscheinen als er in Wirklichkeit ist. Das Chefzimmer in der Adenauer-Stiftung ist nur halb so groß wie sein altes Ministerpräsidenten-Eckzimmer in der Thüringer Staatskanzlei. Doch statt Gelsenkirchener Barock und staubbedeckten Gastgeschenken in Regalwänden dominieren hier moderne Büro-Möbel, eine edle Sitzecke und ein burgunderrotes Sideboard. Innenarchitektonisch betrachtet hat sich Vogel jedenfalls verbessert. Trotzdem keine Erklärung dafür, warum er nicht den Rasen seines Hauses in Speyer mäht oder Vergissmeinnicht pflanzt.

"Weil ich das Gefühl habe, gebraucht zu werden. Ich gehe ja nirgends hin, wo ich nicht eingeladen werde. Gebraucht zu werden und noch eine Botschaft vermitteln zu können. Und solange danach Bedürfnis besteht, gerade bei den jungen Leuten, gerade solange dieses Bedürfnis da ist, finde ich, habe ich eine gewisse Verpflichtung als Zeitzeuge der deutschen Nachkriegszeit auch zur Verfügung zu stehen. Und im Übrigen, das wird nicht ewig so sein, sondern ich denke schon, eines Tages werde ich Ihrer Wunschvorstellung im Garten zu arbeiten und Bücher zu lesen, nachkommen."

Der Mittagsverkehr wird stärker, die Sekretärin meldet den nächsten Besucher. Der neue englische Botschafter Sir Michael Arthur macht seinen Antrittsbesuch und Vogel will ihn unbedingt schon am Lift empfangen. Hellgraue Hose, dunkles Jackett, weißes Hemd, schwarze Schuhe. Klassischer Stil, wie es Vogel liebt, der sich noch schnell die Haare glättet und an der rotschwarz-gestreiften Krawatte zieht. Perfekt. 11 Uhr, Berlin-Tiergarten, die Frisur sitzt – und nicht nur die. Ist das alles so erstrebenswert? Ein altväterlicher Blick ist die Antwort. Sind Haus in Speyer, Wohnung in Erfurt, Appartement in Berlin - alle feucht? Oder hat er einfach nur Angst vor der Einsamkeit? Es dauert zwei, drei Sekunden bis Vogel antwortet:

"Schauen Sie, irgendjemand muss immer was aussetzen, wenn ich mich zurückziehe, wird es heißen, er braucht sich nicht drücken, er könnt uns ja helfen. Wenn er hilft, heißt es, er ist immer noch da. Das sollte einem nicht also sehr berühren. Ich habe die Auffassung, den Eindruck noch gebraucht zu werden, ich freue mich darüber, und solange meine Kräfte reichen, will ich diesen Einsatz noch bringen. ich dränge mich nirgends auf, aber ich stehe zur Verfügung."

Nein, gedrückt hat sich Bernhard Vogel nie. Nie vor der Verantwortung, nie vor schwierigen Aufgaben, nie vor noch schwierigeren Entscheidungen. Das gehört zu seinen Stärken und vielleicht hat ihn deshalb Kanzler Kohl angerufen, als 1992 in der Thüringer CDU-Landtagsfraktion eine Revolte gegen den eigenen Ministerpräsidenten Josef Duchac losbricht.

"So war der Anruf nicht, sondern am Abend vor diesem Anruf, hat es ein Telefon zwischen Helmut Kohl und mir gegeben mit dem Ergebnis, ich sollte die Führung der Adenauer–Stiftung behalten und nicht nach Thüringen gehen. Dies war auch der Grund, warum ich am nächsten Morgen, wie vorgesehen, eine Dienstreise nach München gemacht habe. Aber die an diesem Montag bei Helmut Kohl versammelten, der Generalsekretär der Partei, Volker Rühe war dabei, und Thüringer CDU-Freunde, hat dazu geführt, dass man dort keinen anderen Ausweg aus der Thüringer Krise sah, als gegen was Helmut Kohl und ich am Abend zuvor verabredet hatten, doch mit aufzufordern nach Thüringen zu gehen und das war der Anlass dieses Anrufes und hat dazu geführt, dass ich eine Stunde später auf dem Weg nach Thüringen war."

Drei Stunden später. Vogel sitzt wieder hinter seiner nussbraunen Schreibecke, blättert gedankenverloren durch gelbe Aktendeckel. Drei Besucher sind inzwischen von ihm verabschiedet worden, weitere stehen noch auf dem Tagesplan. Er wirkt müde. "Die Grippe", entschuldigt er sich, ordert eine heiße Zitrone. In seinem Rücken zwei CDU-Größen: An der Wand ein Porträt von Konrad Adenauer, davor auf einer schmalen Betonstele, eine blassgraue Büste von Helmut Kohl mit Farbflecken. Beide schauen Vogel über die rechte Schulter. Beide haben ihn stark beeinflusst. Vogel drückt sich tief in den Schreibtischstuhl, fährt sich mit der Hand mehrfach durch die Haare bis die Mitte wieder aufrecht steht. "Kohl ja, Kohl"… sagt er zögernd. Zweimal hat er sich gegen Kohlsche Personal-Entscheidungen gestemmt. Erfolgreich, was wenige in der CDU behaupten können.

"Erfreulicherweise. Ich habe mich mit ihm eigentlich auch nicht angelegt, ich habe eigentlich nur nicht gemacht, was er wollte. Bei aller Anerkennung, die ich ausdrücklich aussprechen will. Aber eine echte Freundschaft wächst doch auch, wenn es unterschiedliche Meinungen gibt und mit großen Freude habe ich in den Memoiren von Helmut Kohl Jahrzehnte später zum damaligen streitigen Parteitag mit Heiner Geißler gelesen, gelegentlich seien die Delegierten vernünftiger als die Führung."
Zwei Tage vor dem Bundesparteitag! 500 Frauen und Männer, festlich gekleidet, warten dicht gedrängt im Foyer des historischen Kuppelsaals auf die Ehrengäste. Schaler Sekt und Fingerfood verkürzen die Zeit. Die jährliche Verleihung des Leibnitz-Ringes steht heute Abend an, ein gesellschaftliches Ereignis in der niedersächsischen Hauptstadt. Bernhard Vogel und sein Bruder Hans-Jochen warten derweil im Gästehaus der Landesregierung auf den Bus, der sie zum Kongress-Zentrum bringt. Sie erhalten heute Abend gemeinsam den Leibnitz-Ring, benannt nach dem Universalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibnitz. Für ihr Lebenswerk mit dem die Brüder ein besonders Zeichen gesetzt haben, heißt es später in der Laudatio des Veranstalters.

Endlich. Auf die letzte Minute kommen Bernhard und Hans-Jochen Vogel im Foyer an, geführt von Ministerpräsident Christian Wulf. Die Menschenmenge teilt sich, gibt den Weg frei für zwei Landeskinder: die Vogel-Brüder sind in Göttingen geboren und dort aufwachsen. Vornweg Bernhard mit großen Schritten, weit rudernden Armen und wippenden Rockschößen, drei Schritte dahinter Hans-Jochen, ruhiger, angemessener, Hand in Hand mit seiner Frau. "Ich bin ja auch sieben Jahre älter, sagt er ehemalige Oberbürgermeister von München später und hebt seine Stimme dazu an, so als wollte er den Jüngeren für seine noch vorhandene Grundschnelligkeit nachträglich rügen.

Im angrenzenden Beethoven-Saal erklingt klassische Klaviermusik, das Zeichen für Christian Wulf.

Die Freude ist dem Ministerpräsidenten anzusehen und noch mehr den beiden Preisträgern, vorne in der ersten Reihe.

"Und es ist verstanden worden, dass wir nicht im Alter jetzt die Unterschiede unserer politischen Standpunkte relativieren wollen. Die bleiben selbstverständlich bestehen. Mein Bruder verteidigt, den Satz vom demokratischen Sozialismus in seinem Parteiprogramm. Ein solcher Satz wäre mir in einem Programm einer Partei, der ich angehöre, unvorstellbar."

Obwohl keiner mehr ein schwarzes bzw. blondes Haar hat, sehen sie sich kaum ähnlich. Höchstens in der Kleidung, das Klassische für ältere Herren. Dunkelblaues oder wahlweise schwarzes 70er-Jahre- Jackett, weißes oder blaues Hemd, rot oder blaugrundig gestreifte Krawatten. In den siebziger Jahren tragen beide noch das gleiche Brillengestell mit den großen Gläsern und dicker schwarzer Horn-Fassung. "AOK-Gestell Nr. 12, heißt es damals in den Optiker-Angeboten.

"Ich will der Laudatio nicht vorgreifen, außer zu sagen, dass ich die beiden Preisträger großartig finde."

Tiefer Respekt kennzeichnet die kurze Rede des Ministerpräsidenten, während in der ersten Reihe die beiden Geehrten, schmunzeln, plaudern, lachen. So wie sie dasitzen, erinnern sie an einen Loriot-Sketsch, wenn sie plötzlich loskichern fast schon an die zwei Alten aus der Muppett-Show. Vor allem als der Bundestagspräsident Norbert Lammert in seiner Rede ebenfalls an ihren schneeweißen Haaren der Brüder hängen bleibt. "Ihre Frisur", meint Lammert, "ist typisch für ältere Männer, deren Styling nicht von einer jungen Freundin oder dritten Frau kontrolliert wird." Was dazu führt, das die Gäste im Saal in Richtung von Christian Wulf schauen, der neben Freundin Bettina Körner sitzt und sich nach dem Satz verlegen durchs Haar fährt.

"Hier ist ein Fehler unterlaufen, ich habe den Ring meines Bruders."

Schwarzkelchen und Rotkelchen, wie sie auch genannt werden, sind Verwechslungen gewohnt. und jeder kann ein Dutzend Beispiele erzählen. Auf einer Autobahnraststätte wird Bernhard Vogel beinahe von den begeisternden Mitgliedern eines saarländischen SPD-Ortsverein erdrückt, während Hans-Jochen Vogel auf einem Empfang von Bundespräsident Lübke gefragt wird: "Sind Sie es oder ihr Bruder."

Später beim Festessen im Kuppelsaal erzählt der SPD-Ehrenvorsitzende von der Renitenz des Jüngeren Bruders.

"Er ist ja fast sieben Jahre jünger als ich, und wir hatten beide eine gewisse Rechtschreibprobleme, aber ich war halt schon der ältere. Und da hat die Mutter den Gedanken gehabt, dass ich in den Ferien, wir waren beide bei der Großmutter, um ihn kümmere und schaue dass sich seine Rechtschreibung verbessert. Das habe ich auch versucht. Aber dann hat er sich in einem Brief an die Mutter bitter beschwert und dann wurde das eingestellt. Er hat sich a. beschwert, weil ihm das überhaupt nicht gefallen hat und dann auch noch in den Ferien, das kam erschwerend hinzu."

Hans-Jochen Vogel erzählt die Geschichte sachlich, ohne Zwischentöne, während gegenüber Bernhard Vogel schon wieder die Haare hochschiebt. "Ein unglücklicher Gedanke der Mutter", nennt es CDU-Vogel und fügt fast harsch hinzu: "Ich lass mir doch nichts von meinem älteren Bruder sagen." Der wieder rum lächelt altersmilde und ergänzt zwischen zwei Happen Tiramisu beinahe entschuldigend:

"Irgendwo steckt in uns beiden auch unsere italienische Abstammung. Wir haben mütterlicherseits italienische vorfahren aus dem Friaul, aus der Gegend von Udene und ein klein bisschen merkt man das bei ihm und auch bei mir."

Die italienischen Gene sind allerdings äußerst spärlich, bei beiden. Italienische Lebenslust? Italienisches Temperament? Nicht bei Bernhard. Nicht bei Hans-Jochen, der früher als Parteivorsitzender mit seinem Hang zu Plastikhüllen die SPD-Baracke zermürbte und die Unterschiede zwischen den Brüdern so charakterisiert:

"Ich bin halt Jurist, von daher schon detail geneigter und vielleicht ein bisschen pedantisch. Er ist der mehr wissenschaftlich orientierte und der vielleicht nicht so geneigt, Dinge zuzuspitzen, er ist ungeheuer verlässlich. Er hat eine sehr heitere Grundstimmung. Er ist ein Meister im Umgang mit Menschen und zwar nicht auf dem Wege über Konflikt, sondern auf dem Wege über Zusammenführung und Ausgleich."

Und das reichte aus, um aus dem einen den roten Hans-Jochen und aus dem anderen den schwarzen Bernhard zu machen? Beide zögern mit der Antwort, beide üben sich wieder in Großer Koalition. Niemals öffentlich einen Bruderstreit, das haben sie sich geschworen:

"Eine oppositionelle Verhaltensweise, wie sie manche uns andichten, hat es nicht gegeben. Für meinen Bruder war 1945 Kurt Schuhmacher, Führer der SPD eine Vorbildfigur. Für mich war es Konrad Adenauer, das hat die unterschiedlichen Wege begründet .Nnicht irgendein Wettbewerb oder eine Kontroverse innerhalb der Familie."

Bundesparteitag der CDU. Wieder in Hannover. Diesmal eine schmucklose Halle des Messezentrums. Unter 1000 Delegierten zirka 20 aus Thüringen. Sie sitzen vorne ganz rechts mit direktem Blick auf die Kanzlerin. Bernhard Vogel ist der Anführer der unerschrockenen CDU-Mitglieder. Vor sich das 500 Seiten dicke Grundsatzprogramm, Mineralwasser, Kugelschreiber, Zeitung. Seit seinem ersten Parteitag -1965 in Bielefeld -hat er keinen mehr verpasst:

"Ja, man kennt vieles schon. Aber trotzdem schon für einen alten Hasen ist die Tatsache, das eine Bundeskanzlerin, eine Pfarrerstochter aus dem Osten Deutschlands die zentrale Rede eines Parteitages hält, immer noch eine Überraschung und immer noch eine Faszination, die man sich hat nicht vorstellen können."

Er applaudiert als erster und seine Mit-Delegierten folgen brav. Er strahlt – anders lässt es sich nicht beschreiben - saugt jeden Satz der Kanzlerin in sich auf. Dass es soweit kommt:

"Hab ich weder der Geschichte zugetraut noch meiner Partei zugetraut noch Deutschland zugetraut und zeigt eben Großartigerweise, man kann auch Visionen haben, die Wirklichkeit werden können."

Bernhard geh du voran! So sind sie es gewohnt und daran ändert auch nichts die Tatsache, dass er bereits seit vier Jahren nicht mehr Ministerpräsident im Herzen von Deutschland ist. Ja, Thüringen, die elf Jahre stecken tief in ihm. Sein erster Eindruck, damals 1992, als er ohne Zahnbürste und Schlafanzug in Erfurt ankommt. Mein Gott, auf was habe ich mich eingelassen?

"Gott sei Dank, das ganze noch nicht überblickt, dieser Schreckensmoment kam eigentlich erst als ich acht Tage später – am 5. Februar 92 – gewählt und vereidigt wurde. Da wurde mir eigentlich erst klar, auf was ich mich eingeladen hatte. Aber auch da hatte ich noch nicht alle Probleme wirklich erkannt. Es dauerte eine gewisse Zeit – bis wir zur Erkenntnis kamen, dass dies das größte Abenteuer meines Lebens war."

Merkel endet und Vogel steht auf. Während um ihn herum, der Applaus brandet, schlägt er gegen den Takt die Hände zusammen. Langsamer, aber kräftiger. Und erst als er aufhört, wird es still in der Thüringer Ecke. Rührend zählen die Delegierten die Minuten. Thüringen hat, darin sind sie einig, mit am längsten applaudiert. Was Vogel schon nicht mehr mitkriegt, er ist unterwegs.

Der 74-Jährige, der am Mittwoch,19. Dezember Geburtstag feiert, hetzt in den Eingangsbereich der Konferenz, vorbei an den Ständen der Senioren- und der Schwulengruppe der CDU, die für ihre Anliegen werben und neidisch die Stände der Sponsoren beobachten. Hier tummeln sich die Delegierten, die sich mehr für neue Autos, neue Handy-Tarife und kostenlosen Espresso interessieren. Ja, Thüringen beschäftigt ihn, nicht Rheinland-Pfalz, dort wo er die größte politische Niederlage einsteckt. Der Gott-Schütze-Rheinland-Pfalz - 1. November 1988, wo er von der eigenen Partei im Stich gelassen wird. Wäre nicht besser gewesen, er hätte gesagt, Gott-Schütze-Rheinland-Pfalz vor den Sozialdemokraten?

"Das wäre eine falsche Einengung gewesen. Mir ging es nicht um eine Partei, mir ging es um ein Land, ein Land im Aufbau, dass damals noch keine 40 Jahre alt war und dem ich mehr als die Hälfte seiner damaligen Existenz an vorderster Front gedient hatte."

Vogel bleibt am Stand der Konrad-Adenauer-Stiftung stehen, redet mit Mitarbeitern, bittet konziliant, freundlich, was er auch anordnen könnte. Kann er auch beißen, knurrig und wütend sein? "Oh ja", sagt Dieter Althaus, der widerspenstige Nachfolger in Thüringen, der einst Rotweinkisten verwettet, dass er "nie und niemals Ministerpräsident wird.

"Er kann das auch, das kommt nicht so oft vor, aber er konnte sehr deutlich werden, sehr klar artikulieren, sehr klar abgrenzen und das hat er hin und wieder getan. Ich habe selbst erlebt, als er mich zum Fraktionsvorsitzenden mitte der 90ziger haben wollte und ich nein gesagt habe, dass er schon verärgert war."

Bernhard Vogel hört es, lächelt, und geht weiter. Wieder ein Termin, wieder ein Gespräch. Er hetzt durch die Gänge. Für nichts und niemanden einen Blick. Einfach keine Zeit. Vogels Leben. Eine Begleiterin, eine Ehefrau, die Ansprüche stellt? Nicht in der Welt von Bernhard Vogel.

"Zunächst mal hat es nie einen Entschluss gegeben, nicht zu heiraten. Sondern das hat sich dann so entwickelt. Wobei in der Tat eine Rolle gespielt hat, dass sehr früh, 34 bin ich Kultusminister geworden, war noch nicht verheiratet, bei mir sich eine Abneigung gegen Annäherungsversuche, wegen des Amtes das ich hatte, ausgebildet hat und ich deswegen, in der Tat, ein bisschen widerstrebender war, wie ich sonst gewesen wäre. Es war aber nie ein Entschluss und die Bemerkung geht darauf zurück, dass ich an lebenden Beispielen merke, was man einer Partnerin oder einem Partner zumutet, wenn man einen solchen Beruf hat, wie ich ihn über Jahrzehnte ausgeübt habe und daraus kommt in der Tat der Satz: Es ist gut für die Frau, die ich nicht hatte, dass sie mich nicht ertragen musste."

Dann rein in den Konferenzsaal, Jackett ausziehen und sagen: Ich habe nicht viel Zeit, muss zurück. Die CDU, das Grundsatzprogramm, die Thüringer Delegierten… das große Lebens-Abenteuer des Bernhard Vogel geht weiter: standhaft statt stillstand, ruhelos statt Ruhestand.