Das Genie aus dem Waisenhaus

Als Komponist und Geigenlehrer wirkte Antonio Vivaldi auch in einem Waisenhaus. Der Roman erzählt, wie er dort die große Begabung der jungen Violinistin Cecilia entdeckt.
Zu Beginn des 18. Jahrhunderts sind der Chor und das Orchester des Ospedale della Pietà in ganz Europa berühmt. Das Ospedale della Pietà ist eine jener karitativen Einrichtungen von Venedig, in der man gesellschaftlich Geächteten eine Möglichkeit zur Eingliederung geben wollte und Waisenkinder zu Musikerinnen ausbildete. Die hinter einem Metallgitter musizierenden Mädchen, die zum Teil unter körperlichen Deformationen litten und deshalb von ihren Familien ausgesetzt wurden, tauchen auf Gemälden von Gabriele Bella und Francesco Guardi auf, und auch Rousseau schildert in seinen "Bekenntnissen" den überwältigenden Eindruck des Orchesters.

Vor allem Antonio Vivaldi, der seit 1703 als Violinlehrer und Hauskomponist wirkte, trug mit seinen neuartigen Kompositionen zum Ruhm der Einrichtung bei. Der italienische Schriftsteller Tiziano Scarpa stellt in seinem neuen Roman "Stabat Mater" die 15-jährige Violinistin Cecilia in den Mittelpunkt und macht den Eintritt Vivaldis in das Ospedale della Pietà zum Umschlagpunkt seiner Geschichte.

"Stabat Mater" ist aber kein süffiger historischer Roman - das wäre dem formal sehr ambitionierten Scarpa viel zu billig. Vivaldi wird uns aus der vielfach gebrochenen Perspektive seiner widerspenstigen Heldin und Ich-Erzählerin Cecilia präsentiert: Das junge Mädchen leidet unter der mutterlosen Existenz, wendet sich in Briefen an die unbekannte Frau, reflektiert im Zwiegespräch mit einer offenkundig ihrer Fantasie entsprungenen Schlange über weibliche Schicksale, erlebt durch die Musik Vivaldis ihre künstlerische Initiation und löst sich gleichzeitig aus dem Einflussbereich des charismatischen Komponisten.

Im Grunde geht es um den Kampf um Individuation. Don Antonio, wie Vivaldi hier genannt wird, erkennt die große Begabung Cecilias und besucht sogar eine ihrer Unterrichtsstunden, in denen sie die jüngeren Mädchen im Geigenspiel unterweist. Cecilia lässt ihre Schülerinnen die Schreie von Schwalben nachahmen. Kurze Zeit später erlebt sie, wie Vivaldi diesen Einfall zu einem ästhetischen Prinzip macht und seine "Vier Jahreszeiten" darauf aufbaut. Obwohl er sich ihrer Idee bedient, fühlt sie sich von ihm erkannt. Don Antonio verstehe es, Weiblichkeit in Klang zu überführen: Man spüre eine "unverschämte, ungehörige Glut in den schnellen Sätzen und ein unsägliches, untröstliches Sehnen im Mittelteil". Die körperlose Existenz als Musikerin gerät in Widerstreit mit den Unabhängigkeitsgelüsten der jungen Frau.

Scarpa, Jahrgang 1963, Romancier, Lyriker, Dramatiker, Librettist und Essayist, probiert seit seinem Debüt 1996 in beinahe jedem Buch etwas Neues aus. Ob japanische Mangas, Horrorfilme, TV-Shows oder hochgestochene Theorie, bei ihm kommt alles vor. Auch in diesem Buch stellt er sein Gespür für eindringliche Szenen unter Beweis, und die Beschäftigung mit einem historischen Stoff versetzt seinen bisher oft ins Groteske mündenden literarischen Explorationen einen wohltuenden Realitätsschub. Nur die viel beschworene Weiblichkeitsfrage kann nicht ganz überzeugen. "Stabat Mater" beeindruckt vor allem durch den eingängigen Tonfall und seine formale Geschlossenheit: Das Textgewebe besteht aus kunstvoll variierten Hauptmotiven, Nebenmotiven und Refrains und erinnert in seinem ornamentalen Charakter an das Eisengitter, hinter dem die Mädchen musizieren.

Besprochen von Maike Albath

Tiziano Scarpa: Stabat Mater
Aus dem Italienischen von Olaf Matthias Roth
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2009
144 Seiten, 16,90 Euro