Das geklonte Dorf

Von Michael Frantzen · 18.07.2006
Vier Jahre ist es her, da fiel das brandenburgische Horno dem Braunkohlebau zum Opfer. Mehr als 300 Menschen verloren ihre Heimat. Doch Horno hat eine Wiederauferstehung gefeiert. Mehr als zwei Drittel der Hornoer sind nämlich mit Sack und Pack in die nahe gelegene Provinzstadt Forst an der polnischen Grenze gezogen - nach Neuhorno, einem Dorf am Stadtrand, wo alles so sein soll wie im alten Horno.
Frau: "Das ist ein Duplikat, ja!"
Mann: "Ist alles neu, ordentlich, sauber."
Mann: "Neid muss man sich erarbeiten."
Mann: "Ich finde, die Hornoer sind in Forst angekommen."

Tatsächlich? Vier Jahre ist es jetzt her, dass das alte Horno dem Tagebau zum Opfer fiel – und 60 Familien in der Brandenburgischen Grenzstadt Forst eine neue Heimat fanden. Finden sollten. In Neuhorno. Hundert Millionen Euro hat der Energiekonzern Vattenfall dafür angeblich springen lassen.

Herausgekommen ist eine sterile Vorstadtidylle mit gepflegten Vorgärten und Jägerzäunen, wo einem wahlweise ein "Vorsicht! Bissiger Hund!" entgegen bellt oder "Vorsicht! Er könnte schlecht gelaunt sein." Neuhorno – das sind leer gefegte Straßen und Relikte der versunkenen Heimat: Das Kriegerdenkmal und der Jahrhunderte alten Glasaltar in der Kirche.

Hübsch anzusehen ist sie – die Kirche mit ihrem Zwiebelturm. Henni Grübel hat hier häufiger zu tun. Die Mittfünfzigerin ist in der Kirchengemeinde aktiv und kümmert sich seit der Eröffnung der Dauer-Ausstellung über die "Verschwundenen Dörfer der Lausitz" oben unterm Kirchdach um die paar Besucher, die sich ab und zu hierher verirren.

"Für mich ist das nen Dorf auf der Eisenbahnplatte. Also ich hab das anderthalb Jahre gesagt, wenn wir hier hergezogen sind: Ich komm mir vor auf Urlaub. Ich gehöre nicht hier her. Das ist vielen Menschen so gegangen. Vielen Menschen geht es vielleicht auch noch so. Ich hab einfach nicht hierher gehört. Das war nicht mein, ich hab das Haus nicht angenommen. Es war alles neu, wir haben zwar auch unsere Zimmer eingerichtet, wo ich gesagt habe: Das ist das Hornoer Zimmer, weil da die Möbel aus Horno drin standen."

"Karl Scheppan. Ich bin da geboren – in Horno, nicht?! Wir waren schon alter Hornoer. Meine Frau och. Meine Frau ist 82 und ich bin 86. Au! Die erste Zeit. Das erste Jahr und so – Mensch, war das schwer. War das schwer. Aber jetzt habe ich es mir angewöhnt hier. Hat die Zeit gebracht. Mit der Zeit ist es dann geworden. Dann konnte man ja auch hier raus gehen und hat man wieder sein Viehzeug hier gehabt. Die Hühner und die Gänse und die Enten, nicht wahr?! Und das war dann die Abwechslung. Und das hat mir son bisschen übern Berg geholfen.""

Karl Scheppan ist einer von rund 300 Hornoern, die ihre Heimat verloren haben. Und ein bisschen auch ihre Vergangenheit. Das prägt. Immer noch. Auch wenn Scheppans Schwiegersohn, Ortsvorsteher Bernd Siegert, längst die Devise ausgegeben hat: "Wir blicken nach vorn."

Wenn man so will, ist Siegert das Gesicht Hornos. Ein Hüne mit Riesen-Händen, immer etwas mürrisch, der sich von niemanden über den Tisch ziehen lässt. Nicht vom Energieriesen Vattenfall und seinen geleckten Anwälten. Und auch nicht von einem Manfred Stolpe, der nach der Wende als Brandenburger Ministerpräsident den Hornoer erst versprach, sich für den Erhalt des Ortes einzusetzen - nur um kurze Zeit später um zu fallen.

24 Jahre währte der Kampf um Horno – dann war auch der letzte Prozess verloren; unterschrieb Bernd Siegert zusammen mit den anderen schweren Herzens den Vertrag, der das Ende vom alten Horno besiegelte – und seine Auferstehung im zehn Kilometer entfernten Forst. Aus alt mach neu.

Wobei das mit dem "neu" auch nicht so richtig stimmt: Denn abgesehen vom neuen Standort und den Neubauten ist alles beim Alten geblieben: Die selben Hausnummern, die selben Straßennamen, die selben Nachbarn. Und so sitzt Bernd Siegert also im ärmellosen T-Shirt und kurzer Hose auf der Terrasse seines großzügigen Grundstücks – links wohnen die Schwiegereltern, rechts die erwachsene Tochter – und sinniert darüber, wie es denn jetzt so läuft in seinem geklonten Dorf.

"Wissen se: Was ist besser? Wenn ich nen Haus neu baue, dann kann man denken, das ist moderner. Und dann kann man ja nicht sagen, das ist schlechter. Das sind ja auch nicht die Dinge, die unseren Leute hier schwer fallen. Aber wenn man dann sieht, dass so die Geschichte weg geschmissen ist, die über Generationen gewachsen ist, es hat ja jede Generation an den Grundstücken ihre Leistung gehabt. Und jetzt ist ja alles innerhalb von einem Jahr entstanden, nich?! Es hat ja jeder im Prinzip das gleiche Schicksal zu tragen. Das war ja das auch, weil wir alle das gleiche Schicksal zu tragen haben, in Althorno, was die Gemeinde zusammen geschweißt hat."

"Ein heimatloses Dorf", hat einmal die FAZ über Horno geschrieben, "zieht in eine sterbende Stadt." Die sterbende Stadt – das ist Forst. Ende des Zweiten Weltkriegs hatte die traditionsreiche Tuchmacherstadt noch 45.000 Einwohner, heute sind es nur noch halb so viele, regiert der Verfall: Überall Fabrikruinen und leere Plattenbauten. Jeder vierte ist hier arbeitslos.

Gerhard Reinfeld kennt die Zahlen zu Genüge. Seit der Wende ist der CDU-Mann jetzt schon Bürgermeister, hält er sich zäh im Amt, auch wenn seine Forster ihn gerade per Volksentscheid abwählen wollen. Wegen mangelnden Engagements. Und Erfolglosigkeit. Tatsächlich hat Reinfeld nicht gerade viel gerissen. Die Ansiedlung Hornos war da noch einer seiner größten Coups.

"Also, ich gehe gerne nach Horno, weil ich sage, die Hornoer wissen, was sie wollen. Was nicht immer in allen Ortsteilen bei uns ist. Die wissen, was sie wollen, weil sie durch diesen Abwehrkampf gestärkt sind. Weil sie auch den Wert einer Dorfgemeinschaft eben auch kennen gelernt haben. Und weil sie es auch brauchen, um sich gegenseitig zu schützen. Und zu stützen. Und deswegen finde ich das gut. Das erleichtert die Führung einer Stadt, wenn die Ortsteile sich selbständig überlegen, was sie machen wollen."

Nicht alle in Forst sind so gut auf die Hornoer zu sprechen wie der Bürgermeister. Da sind nämlich die "Neider", wie Henni Grübels Sohn Steven meint.

"Hier musste auch schon abends die Polizei gerufen werden, weil randaliert wurde und alles mögliche. Wie bei der Kirche, da haben se auch zwee Scheiben eingeschmissen, die mussten auch repariert werden. Weil sie sich halt drüber aufregen. Dass die Leute hier alle was neues gekriegt haben. Die denken, sie haben’s geschenkt gekriegt. So, und dann sitzt man nun dann hier in seinem goldenen Käfig und wenn man die Leute aus dem Dorf nicht noch um sich rum hätte, würde es noch viel schlimmer aussehen. Man selbst kann nicht viel machen als Anwohner. Man hört sich das an und ist gewiss auch betrübt drüber, aber das Gespräch kann man auch suchen, bloß die Leute wollen einem ja nicht zu hören, das macht dann alles keinen Sinn."

"Das hier?! Das sind Ganoven. Die haben’s richtig gemacht. Erst haben se da abgesahnt, wo das Kraftwerk gebaut wurde. Brauchen sie bloß durchfahren, dann wissen se genau, wer mit dem Kraftwerk gebaut. Und die haben jetzt den richtigen Reibach gemacht. Ich hab meine Heimat auch verloren. Von drüben in Polen. 46 – da hat sich keine Sau um mich gekümmert."

Seinen Namen will er nicht nennen – unser Motzki. "Tut nichts zur Sache."

Siegfried Winter ist da schon von einem anderen Kaliber. Der 70-Jährige war einmal ein hohes Tier in der DDR-Energiewirtschaft. In Cottbus hat er gearbeitet, bis die Wende kam – und damit auch das Ende seine Karriere. Seitdem hat der Forster viel Zeit. Neuhorno, erklärt er, sei ihm schon ein bisschen suspekt.

"Ich fahr bloß immer durch mit dem Fahrrad."

Und schon mal angehalten?

"Noch nie."

Warum nicht?

"Ach wissen se, was soll’s?!"

Sagt es. Nur um hinzuzufügen, dass er sich ja manchmal schon so seine Gedanken mache, warum sie das ganze Dorf mit einem mannshohen Drahtzaun umzäunt hätten. Und die Grundstücke so viel größer seien als anderswo in Forst.

"Müssen se denn so viel Land hinten haben? Einige haben ja da nen paar Hektar Land nach hinten. Entweder spekulieren se in der Zukunft mal, dass se es als Bebauung mal machen können. Wenn das mal genehmigt wird. Also, ich weiß ja nicht, ob die Landwirtschaft betreiben? Haben die da Viehzeug?"

Bernd Siegert kennt das schon. Dass sich "die anderen" den Mund fusselig reden über Horno. War früher schon so. Im September 2000 beispielsweise, als die Bagger anderthalb Kilometer vor Horno per Gerichtsbeschluss anhalten mussten und die Bergarbeiter eine Mahnwache aufbauten. Und die Puhdys und der damalige Bundeskanzler Schröder nach Horno eilten, um sich mit den Kumpeln zu solidarisieren. Weil: Es ging ja um Arbeitsplätze. Dass von einst 110.000 Beschäftigten im Braunkohletagebau zu DDR-Zeiten gerade einmal 6000 übrig geblieben und selbst die verbliebenen Jobs nicht gesichert waren – das wurde dezent ausgeblendet.

"Da hat man uns vorgeworfen, wir kämpfen gegen Arbeitsplätze. Die Situation hat sich dann geändert, jetzt haben wir aus unserer Situation versucht, das beste draus zu machen, haben Rahmenbedingungen ausgehandelt mit Vattenfall; haben uns doch äußerlich nen recht gefälliges Dorf aufgebaut. Und das holt natürlich wieder die Neider aufs Trapez. Und das ist natürlich was, was die Hornoer nur schwer verstehen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand nen Grund hat, neidisch zu sein. Derjenige, der die Heimat verloren hat: Schlechter kann’s nem Menschen doch nicht mehr gehen!"

Henni Grübel sieht das genauso.

"Auf alle Fälle. Vor allem: Wir haben alles gemacht, die Nerven lagen blank und jeder Mensch hat nur ein Nervenkostüm. Das nützt nun mal nichts. Viele werden’s vielleicht nicht nach außen hin tragen, ich trag’s auch nicht nach außen. Aber ich weiß, wie’s in mir aussieht. Und wir haben sehr, sehr viele Menschen gehabt, die darüber krank geworden sind. Tja, die Seele ist bei vielen Leute krank und eh die wieder heilt, das wird bestimmt noch nen paar Jährchen dauern. Was wollen se denn gegen ne kranke Seele tun? Was würden Sie tun? Man kann nur versuchen, sich selber wieder Mut zu machen. Aber wenn dann viele Leute schon über 70 und 80 Jahre sind, die sagen: Was sollen wir denn noch?!"

"Das ist ja alles neu, nich. Ich hab auch geliebt das alte. In Horno. Die alten Häuser. Und alte Scheunen. Die Jahrhunderte gestanden. Und die Dorfaue da, die wir hatten. Mit Bäumen, großen Bäumen. Nen gestandenes Dorf war das. Das ist nen neues Dorf hier. Ist schön, aber für uns Alten?! Das ist ja nun alles vorbei. Ist für die Jungen."

Richtig jung ist Karl Scheppans Schwiedersohn – der Ortsvorsteher - zwar mit seinen Mitte 50 auch nicht mehr, aber da sind ja noch seine zwei Töchter. Die eine wohnt direkt neben an – und will "einfach nur noch in Ruhe gelassen werden." Die andere studiert in Potsdam und hat laut Siegert nicht nur am Verlust des alten Dorfes zu knabbern, sondern auch am Verlust des Vertrauens. Nach all dem, was vorgefallen ist. In den letzten Jahrzehnten.

"Was ist denn zu DDR-Zeiten passiert?! Umsonst wurden nicht Milliarden Steuermittel eingesetzt, um diese Altlasten, Altbergbau aus DDR-Zeiten, hier zu beseitigen. Und dass da die Menschen drunter gelitten haben, das ist selbstverständlich. So wie man mit Natur umgegangen ist, so ist man zu DDR-Zeiten teilweise auch mit den Menschen umgegangen. Die ihre Dörfer verlassen mussten. Die Dörfer sind abgebrochen worden. Und damit ist eigentlich auch die Heimat zerstört worden. Dachte auch, nach der Wende, in Zeiten der Demokratie haben wir auch alle Möglichkeiten und alle Rechte, uns zu wehren. Aber letzten Endes mussten wir feststellen: Die größte Kraft in der Demokratie ist das Kapital; das Geld. Und dem mussten wir uns auch fügen."

Sich fügen – das ist so gar nicht nach dem Geschmack von Steven Grübel. Eigentlich. Doch der 30-Jährige hat resigniert. Hat in den 90ern zu lange zusammen mit anderen Umweltaktivisten für den Erhalt Hornos gekämpft; sich aufgerieben; und mit ansehen müssen, wie es mit Horno den Bach runter ging. Und die Leute im Dorf irgendwann doch zur Tagesordnung übergingen – und sich auf den Deal mit Vattenfall einließen.

"Horno müsste eigentlich noch da sein, wo es hingehört."

Doch da klafft jetzt ein Riesen-Loch.

"Wenn ich jetzt von der Umwelt ausgehe, dann ist gar nichts so geworden, wie es hätte sein sollen. Weil die Landschaft immer noch weiter zerstört wird, weil in das Gefüge eingegriffen wird. Und die Flüsse nicht mehr so fließen, wie sie geflossen sind. Ich meine, der Spreewald senkt sich weiter ab. Insgesamt geht der Grundwasserspiegel weiter runter, weil eben Millionen an Litern raus gepumpt werden. So die ganze gewachsene Bodenschicht wird umgeschichtet. Ich mein, die Natur wird kaputt gemacht dafür, dass der Mensch sein Nutzen daraus zieht."

Ab und zu schaut Steven Grübel im "Hornoer Krug" vorbei. Auch so ein Duplikat. Gab es früher schon in Alt-Horno. Mit dem Unterschied, dass das neue, alte Restaurant viel geräumiger ist, ein Bowlingbahn hat und jetzt sogar schon die Leute aus Forst hier her kommen. Annett Lauksch und ihr Partner zum Beispiel.

"Na ja, es ist noch immer so: Wenn man mit dem Auto fährt, es ist schon irgendwie noch ... da fängt halt wie ne neue Welt an. Aber ich find’s sehr schön. Wir heiraten auch dort. Am fünften August, weil es eben so schön ist. Dort in der Gaststätte, der Teich gegenüber lassen wa die Fotos machen. Also, ich find’s schön."

Schön ist Neuhorno tatsächlich. Schön adrett. Aber irgendwie auch leblos. Braucht halt seine Zeit - Henni Grübel nickt energisch. Und immer noch besser, als in einem dieser Plattenbauten in Forst zu leben. In "der Stadt" ist sie nur selten: Einkaufen, Tanken, Arztbesuche. Das nötigste halt.

"Das mit der Stadt – das wird auch noch ne Weile dauern. Wir müssen ja erst einmal mit uns zu Rechte kommen. Das ist eben auch schwer. Das ist wie mit ner Ehe. Man wächst zusammen oder man wächst nicht zusammen. Aber wir hoffen, dass wir zusammen wachsen."

"Man muss nach vorne schauen. Man muss den Blick nach vorne richten und man kann jetzt nicht mehr über lieb gewonnene Dinge nach jammern. Wir haben ja nun wirklich mit aller Kraft, mit allen Möglichkeiten dafür gekämpft, dass wir die nicht verlieren. Und es ist uns keine Alternative geblieben als ne Umsiedlung. Und jetzt müssen wir wieder aus der Situation das Beste machen. Und da hilft überhaupt nicht jammern. Jammern erschwert das Leben und das mache ich auch nicht."

Sagt der Ortsvorsteher. Sein Schwiegervater, der alte Scheppan, will da nicht nachstehen.
"Es hat ja auch Vorteile. Wenn ich heute denke: Dicht an der Stadt. Wenn wir in Horno soweit ab von die Städte ... war schon schwierig. Wenn du jetzt im Alter krank bist, biste schnell im Krankenhaus. Ist schon nen Vorteil. Also, der Standort ist schon schön hier, nich?! Also, ich hab das Alte abgehakt."

Das Alte abhaken – wenn das mal so einfach wäre! In Horno, diesem "heimatlosen Dorf", wird das wohl noch lange dauern; werden Karl Scheppan und Co wohl noch lange nach der verlorenen Seele ihres versunkenen Dorfes suchen.

Mann: "Also, manchmal, wenn ich so liege und Zeit habe, denke ich noch daran an unseren Hof und an allem, nicht wahr?!"
Mann: "Wir müssen sehen, dass die Wunden schnell verheilen."
Frau: "Das wird schon klappen."