Das Geheimnis der "Zollstation"

24.06.2013
Ernst Jünger sammelte die Worte Sterbender. Der Band "Letzte Worte" präsentiert einen Teil der Ausbeute, vor allem Stimmen historischer Prominenz. Doch selbst Jünger war enttäuscht: "Es gibt kaum einen Gemeinplatz, mit dem sich nicht schon ein Mensch verabschiedete."
Bereits 1938 nahm Ernst Jünger in einen Band kurzer Prosa ("Das abenteuerliche Herz") einen hochinteressanten, nur drei Seiten langen Text auf: "An der Zollstation". Ein Sterbender, schreibt Jünger, überblicke an diesem hochgelegenen Grenzposten ´"wie von einem Grat die Landschaft des Lebens und des Todes". Der Tonfall dieser kleinen Betrachtung verrät, dass ihr Autor auf diesen Augenblick der Erkenntnis außerordentlich gespannt ist.

Mit der ihm eigenen systematischen Neugier eines Naturforschers – mit der er auch seine Käfersammlung betrieb und bewusstseinserweiternde Drogen an sich selbst ausprobierte - versuchte er dem Geheimnis dieser "Zollstation" auf die Spur zu kommen und begann etwa 1949, die Worte Sterbender zu katalogisieren und auf entsprechende Hinweise zu untersuchen.
Dazu ließ er Postkarten drucken, auf deren Rückseite drei Spalten auszufüllen waren - Autor, Letztes Wort, Quelle -und verteilte sie an Verwandte und Bekannte.

Der vorliegende Band versammelt nur einen kleinen Teil seiner Ausbeute: etwas mehr als vierhundert der mehreren Tausend alphabetisch geordneten Karteikarten hat der Herausgeber (und Jünger-Biograf) Jörg Magenau ausgesucht und in eine Ordnung gebracht, die in groben Zügen den Vorstellungen Jüngers folgt. Der hatte unter dem Stichwort "Allgemein" bereits mögliche Kategorien vermerkt: Zu beachten sind die Unterschiede zwischen bewusst gesprochenen Abschiedsworten, und dem, was jemand zufällig als letztes im Leben gesagt hat. Es gibt Worte, die man als Ausblick auf die künftige Welt werten kann, und solche, die vor allem Statements für die Nachwelt sind, darunter die authentische, die zurechtgebogene und die erfundene Variante. Zu letzterer gehört Goethes berüchtigtes "Mehr Licht", das gar nicht nur ein fehlinterpretiertes, sondern auch kein letztes Wort war: danach kam noch etwas, das mit "Frauenzimmerchen" anfing.

Im vorliegenden Band kommt vor allem historische Prominenz zu Wort. Jünger stützte sich dafür vielfach auf einschlägige Bücher, aber auch auf journalistische Quellen bis hin zur Kolportage.
Doch von seiner Materialsammlung war er dann doch enttäuscht: "Es gibt kaum einen Gemeinplatz, mit dem sich nicht schon ein Mensch verabschiedete", vermerkt er in einem unvollendeten Essay, der diesem merkwürdigen und anrührenden Büchlein vorangestellt ist.

Merkwürdig ist seine makaber-pompöse Aufmachung: Kleinformat und schwarzes Leinen mit Goldprägung, innen aufwendiger Zweifarbdruck auf dickem Papier, dazu Faksimiles der Original-Karteikarten.

Anrührend aber ist das Instrumentarium und die Art und Weise, wie Jünger seinem Material beizukommen versuchte: mit Karteikarten und Kategorien, Empirie und positivistischer Diesseitigkeit. Die Enttäuschung, denkt man, konnte gar nicht ausbleiben.

Besprochen von Katharina Döbler

Ernst Jünger: "Letzte Worte"
Herausgegeben von Jörg Magenau
Klett-Cotta, Stuttgart 2013
245 Seiten, 22,95 Euro