Das Geheimnis der FDP
Es gibt in der Politik immer wieder Dinge, die man nicht so richtig begreift, und manchmal geht das weit über die übliche Politikverdrossenheit und die wohlfeile Politikerschelte hinaus. Im Moment ist vielleicht am verblüffendsten, wie gut die FDP in den Wahlprognosen dasteht. Bei Lichte besehen ist das die Partei, die für all das steht, was die aktuelle und in ihren Ausmaßen immer noch nicht ganz absehbare Finanzkrise ausmacht.
Es ist die Partei des freien Spiels der Kräfte, des Wirtschaftsliberalismus, es ist die Partei, die den Einfluss des Staates so weit wie möglich von unternehmerischen Entscheidungen fernhalten möchte. Was zur Finanzkrise geführt hat, hat sich die FDP auf ihre Fahnen geschrieben. Doch der FDP schadet das keineswegs, im Gegenteil. Es scheint ihr sogar zu nützen. Was geht hier vor?
Im letzten Jahrzehnt hat die FDP ziemlich offensiv den Zeitgeist verkörpert. Guido Westerwelle trat seinen Vorsitz programmatisch mit der Absicht an, eine "Spaßpartei" zu führen. Es konnte auch augenzwinkernd als entsprechender Gag verbucht werden, wenn Guido Westerwelle ins Fernsehstudio kam und in jeder Talkshow die Beine so suggestiv übereinanderschlug, dass unwillkürlich seine Schuhsohlen in die Kamera stachen, auf denen groß das Signet "18 Prozent" prangte – das war so vermessen, dass es fast schon einen popkulturellen Eigenwert bekam. Mittlerweile, und das ist die wirklich ironische Pointe, scheinen diese 18 Prozent tatsächlich in Reichweite zu sein.
Der Verdacht erhärtet sich: Das Wichtigste an der FDP ist, dass sie überhaupt existiert. Es ist eher egal, wie sie sich konkret programmatisch äußert. Sie scheint vielmehr ideal dafür geeignet zu sein, mit subjektiven Wunschvorstellungen ausgefüllt zu werden. Und dieses Ideal schlägt sich am deutlichsten in der Formel nieder, dass es um eine "bürgerliche Mehrheit" gehe. Das "Bürgerliche" ist die große FDP-Suggestion. Es ist per se positiv besetzt. Dabei spielt es gar keine Rolle, dass die Grünen und die SPD mittlerweile ebenfalls klassische bürgerliche Parteien sind – sie tragen das nur nicht so selbstbewusst vor sich her. Die Grünen haben das Problem, dass ihre Identität sehr stark vom Alternativen und nicht vom Bürgerlich-Existierenden geprägt ist, und die SPD laboriert immer stärker an dem Phantom einer Arbeiterschaft, die eigentlich ihre Klientel sein müsste. Nur die FDP hat mit dem Bürgerlichen überhaupt kein Problem. Die FDP braucht das Bürgerliche gar nicht näher zu definieren, sie braucht es nur zu plakatieren.
Das bürgerliche Ideal aber ist das freisinnige Denken, der unabhängige, gebildete Kopf. Und der ist keineswegs mit einem bloßen Wirtschaftsliberalismus und der Forderung nach Steuersenkungen gleichzusetzen. Dieser liberale Freigeist war in Deutschland schon im Laufe des 19. Jahrhunderts eine große, im konkreten politischen Alltag aber unerreichbare Sehnsucht, und am schönsten bildet sie sich wohl in Theodor Fontanes Selbstporträt des alten Stechlin aus: ein preußischer Junker, der im Dreiklassenwahlrecht selbstverständlich für die Konservativen kandidiert, aber insgeheim gewisse Sympathien für seinen sozialdemokratischen Kontrahenten, den Feilenhauer Torgelow, hat. Der alte Stechlin wie sein Autor Fontane sind echte Liberale, und ihre eigentliche Partei, die Freisinnigen, sind in der Weimarer Republik sehr schnell zerrieben worden. Dieses Freisinnige, dieses wahrhaft Liberale ist immer noch eine große Sehnsucht, eine große Projektionsfläche für ein selbstbestimmtes Leben, und dabei ist es offenkundig gar nicht so wichtig, dass es in der Realität auf die FDP zusammengeschrumpft ist, einem kleinen ökonomischen Wurmfortsatz. Das Geheimnis der FDP ist, dass sie eine große Leerstelle darstellt, und diese wird durch die Wahlumfragen immer stärker geschürt.
Helmut Böttiger, Dr. phil., geboren 1956 in Creglingen/Baden-Württemberg. Studium in Freiburg, Dissertation über DDR-Literatur 1985. Lebt nach verschiedenen Redaktionstätigkeiten seit 2002 als freier Autor in Berlin. Ernst-Robert-Curtius-Förderpreis für Essayistik 1996. Wichtigste Buchveröffentlichungen: "Ostzeit-Westzeit. Aufbrüche einer neuen Kultur", München 1996. "Nach den Utopien. Eine Geschichte der deutschen Gegenwartsliteratur", Wien 2004. "Celan am Meer", Hamburg 2006. Ausstellungskatalog "Doppelleben. Literarische Szenen aus Nachkriegsdeutschland", Darmstadt und Göttingen, 2009.
Im letzten Jahrzehnt hat die FDP ziemlich offensiv den Zeitgeist verkörpert. Guido Westerwelle trat seinen Vorsitz programmatisch mit der Absicht an, eine "Spaßpartei" zu führen. Es konnte auch augenzwinkernd als entsprechender Gag verbucht werden, wenn Guido Westerwelle ins Fernsehstudio kam und in jeder Talkshow die Beine so suggestiv übereinanderschlug, dass unwillkürlich seine Schuhsohlen in die Kamera stachen, auf denen groß das Signet "18 Prozent" prangte – das war so vermessen, dass es fast schon einen popkulturellen Eigenwert bekam. Mittlerweile, und das ist die wirklich ironische Pointe, scheinen diese 18 Prozent tatsächlich in Reichweite zu sein.
Der Verdacht erhärtet sich: Das Wichtigste an der FDP ist, dass sie überhaupt existiert. Es ist eher egal, wie sie sich konkret programmatisch äußert. Sie scheint vielmehr ideal dafür geeignet zu sein, mit subjektiven Wunschvorstellungen ausgefüllt zu werden. Und dieses Ideal schlägt sich am deutlichsten in der Formel nieder, dass es um eine "bürgerliche Mehrheit" gehe. Das "Bürgerliche" ist die große FDP-Suggestion. Es ist per se positiv besetzt. Dabei spielt es gar keine Rolle, dass die Grünen und die SPD mittlerweile ebenfalls klassische bürgerliche Parteien sind – sie tragen das nur nicht so selbstbewusst vor sich her. Die Grünen haben das Problem, dass ihre Identität sehr stark vom Alternativen und nicht vom Bürgerlich-Existierenden geprägt ist, und die SPD laboriert immer stärker an dem Phantom einer Arbeiterschaft, die eigentlich ihre Klientel sein müsste. Nur die FDP hat mit dem Bürgerlichen überhaupt kein Problem. Die FDP braucht das Bürgerliche gar nicht näher zu definieren, sie braucht es nur zu plakatieren.
Das bürgerliche Ideal aber ist das freisinnige Denken, der unabhängige, gebildete Kopf. Und der ist keineswegs mit einem bloßen Wirtschaftsliberalismus und der Forderung nach Steuersenkungen gleichzusetzen. Dieser liberale Freigeist war in Deutschland schon im Laufe des 19. Jahrhunderts eine große, im konkreten politischen Alltag aber unerreichbare Sehnsucht, und am schönsten bildet sie sich wohl in Theodor Fontanes Selbstporträt des alten Stechlin aus: ein preußischer Junker, der im Dreiklassenwahlrecht selbstverständlich für die Konservativen kandidiert, aber insgeheim gewisse Sympathien für seinen sozialdemokratischen Kontrahenten, den Feilenhauer Torgelow, hat. Der alte Stechlin wie sein Autor Fontane sind echte Liberale, und ihre eigentliche Partei, die Freisinnigen, sind in der Weimarer Republik sehr schnell zerrieben worden. Dieses Freisinnige, dieses wahrhaft Liberale ist immer noch eine große Sehnsucht, eine große Projektionsfläche für ein selbstbestimmtes Leben, und dabei ist es offenkundig gar nicht so wichtig, dass es in der Realität auf die FDP zusammengeschrumpft ist, einem kleinen ökonomischen Wurmfortsatz. Das Geheimnis der FDP ist, dass sie eine große Leerstelle darstellt, und diese wird durch die Wahlumfragen immer stärker geschürt.
Helmut Böttiger, Dr. phil., geboren 1956 in Creglingen/Baden-Württemberg. Studium in Freiburg, Dissertation über DDR-Literatur 1985. Lebt nach verschiedenen Redaktionstätigkeiten seit 2002 als freier Autor in Berlin. Ernst-Robert-Curtius-Förderpreis für Essayistik 1996. Wichtigste Buchveröffentlichungen: "Ostzeit-Westzeit. Aufbrüche einer neuen Kultur", München 1996. "Nach den Utopien. Eine Geschichte der deutschen Gegenwartsliteratur", Wien 2004. "Celan am Meer", Hamburg 2006. Ausstellungskatalog "Doppelleben. Literarische Szenen aus Nachkriegsdeutschland", Darmstadt und Göttingen, 2009.