Das Geheimnis an der Tungúska

Von Ernst von Waldenfels · 25.06.2008
Es war die größte Explosion in der aufgeschriebenen Geschichte der Menschheit. Sie ereignete sich am 30. Juni 1908 um 13 Uhr Ortszeit in Mittelsibirien und verwüstete binnen Minuten ein Gebiet von der zweifachen Größe des Saarlandes. Gleich danach begannen die Erklärungsversuche und sie haben bis heute nicht aufgehört.
Astronomische Nachrichten, Berlin Juli 1908. Aus einem Bericht von Max Wolf, Direktor des Astrophysikalischen Instituts der Universität Heidelberg über die Nacht vom 30.Juni auf den ersten Juli:

"In wenigen Minuten war es hell geworden. Wir dachten zuerst an ein Nordlicht; doch weder konnte die Nordlichtlinie mit Deutlichkeit erkannt werden, noch war ein Fluktuieren oder eine Strahlenverschiebung mit Sicherheit festzustellen. Die Mitte des Scheins lag beim Nordpunkt, aber auch weit über den Zenit hinaus war der Himmelsgrund noch recht hell erleuchtet. Die Taschenuhr konnte um Mitternacht bequem abgelesen werden."

Nicht nur in Heidelberg wird es in der Nacht vom 30.Juni auf den ersten Juli plötzlich beinahe so hell wie am Tag. Im Westen Sibiriens, in der Nähe von Omsk, schreibt Olga Olófinskaya, eine politisch Verbannte, in ihr Tagebuch:

"Um diese Jahreszeit ist die zwölfte Stunde die dunkelste des Tages. Trotzdem war es gestern so hell, dass ich nicht schlafen konnte. Anderen ging es genauso. Auf der Straße traf ich einige Bekannte, die sich genau wie ich, über die nie da gewesene Helligkeit wunderten. Gemeinsam mit Ihnen verbrachte ich eine weitere Stunde auf der Straße, ohne dass es dunkler wurde. Erst als die erste Morgenröte zu sehen war, gingen wir schlafen."

Die ersten Berichte über optische Anomalien am Nachthimmel liegen bereits am 23. Juni vor, wie sowjetische Wissenschaftler sechzig Jahre später in langwierigen Archivforschungen herausfinden werden. Betroffen ist die gewaltige Landmasse zwischen Bordeaux im Westen und Irkutsk im Osten. Und sie sind auch am 1. Juli nicht vorbei, sondern gehen noch einige Tage weiter, wobei sie schnell an Intensität abnehmen. Und nicht nur das. Aus den letzten Junitagen des Jahres 1908 existieren mehrere Berichte über Störungen des Magnetfeldes der Erde. Professor Weber vom physikalischen Institut der Universität Kiel, schreibt an die Astronomischen Nachrichten, dass er die erste in der Nacht von 27 zum 28 Juni beobachtet hat und die letzte in der Nacht vom 29. auf den 30. Um 1.30 Uhr nachts ist sie zu Ende. Wenige Minuten später kommt es sechs Zeitzonen weiter östlich zu einer ungeheuren Katastrophe. Sie ereignet sich in einer der einsamsten Gegenden der Welt, im Mittelsibirischen Bergland in der Nähe des Flusses "Steinige Tunguska", einem Nebenfluss des Jennissei. Die nächste Siedlung ist hunderte von Kilometern entfernt und nach Krasnojarsk, der ersten größeren Stadt sind es bereits 1000 Kilometer durch unwegsame Taiga.

Am 4. Juli 1908 schreibt die Zeitung "Krasnojaretzk" aus der gleichnamigen Großstadt:

"Morgens um 7 Uhr 43 setzte ein Geräusch wie von einem starken Wind ein. Direkt danach gab es einen schrecklichen Schlag. Er wurde von einem unterirdischen Beben begleitet, von dem die Gebäude buchstäblich erzitterten, als hätten sie von einem Baumstamm oder einem schweren Stein einen starken Schlag bekommen. Dem ersten folgte ein zweiter, genauso starker Schlag und ein dritter. Außerdem gab es in der Zeit zwischen dem ersten und dem dritten Schlag ein ungewöhnliches dumpfes Gedröhne, als seien Dutzende von Zügen gleichzeitig auf denselben Gleisen unterwegs.

Bevor die ersten Schläge ertönten, wurde der Himmel von Süden nach Norden von einem feurigen Himmelskörper durchquert. Das geschah so schnell und vor allem so unerwartet, dass man weder seine Größe noch seine Form richtig wahrnehmen konnte.

Dafür konnten viele sehr gut beobachten, was geschah, als das Flugobjekt den Horizont berührte: Aus den Baumwipfeln schoss eine riesige Flamme, die den Himmel in zwei Hälften teilte. Ihr Leuchten war so stark, dass es sogar in die Zimmer drang, deren Fenster nach Norden gingen. .. In dem Moment, als die 'Flamme' erstarb, fingen sofort die Schläge an."

In ganz Mittelsibirien wird der Flugkörper beobachtet und die Geräusche in einem Umkreis von 600 Kilometern wahrgenommen. Die Wochenzeitung Sibirsk aus Irkutsk berichtet am 9. Juli:

"Bei der Siedlung Karélinskom, 200 Werst nördlich von Kírensk, erblickten die Bauern im Nordwesten, ziemlich hoch über dem Horizont, irgendeinen bläulich weiß leuchtenden Körper, der so hell leuchtete, dass die Augen seinen Anblick nicht lange ertrugen. Zehn Minuten lang bewegte er sich abwärts. Der Körper schien die Form einer Röhre oder Zylinders zu haben. Der Himmel war wolkenlos und nur hoch über dem Horizont, genau dort, wo der leuchtende Körper beobachtet wurde, war eine kleine dunkle Wolke zu bemerken. Es war trocken und heiß. Als sich der leuchtende Körper der Erde näherte, schien es auf einmal, als würde er anschwellen. Plötzlich erschien an seiner Statt eine riesige, schwarze Rauchwolke. Es folgte ein sehr lautes Klopfen, wie vom Fallen großer Steine oder von Artilleriesalven. Alle Gebäude bebten. Zur selben Zeit schoss aus der Wolke eine Flamme unbestimmter Form. Alle Bewohner der Siedlung rannten in panischem Schrecken nach draußen; die Frauen weinten und alle dachten, dass das Ende der Welt gekommen sei."
Während die Bauern in den einsamen Taigadörfern glauben, das Ende der Welt sei gekommen, denken die Bewohner von Tschita´, an der chinesischen Grenze, es sei wieder Krieg mit Japan ausgebrochen.

In den Kellern des Irkutsker Observatoriums, einige hundert Kilometer entfernt, bricht um 7.45 Uhr Ortszeit der Zeiger des Seismographen, der Mikrobeben aufzeichnet. Bemerkenswert und für die Wissenschaftler unerklärlich ist das Verhalten des Gerätes, das Schwankungen im Magnetfeld aufzeichnet. Seine Schwingungen sind so extrem und ungewöhnlich, dass man sie auf einen Messfehler zurückführt.

Im Irkutsker Observatorium, in Potsdam, auf Mount Wilson in den USA und in allen größeren meteorologischen Stationen der Erde verzeichnen die Barometer eine Druckwelle, die mehrmals um den Globus rast.

Je nach Lage mehrere Minuten oder auch Stunden später wird von Seismografen in Russland, aber auch in Deutschland, in Jena und Lindenberg, ein Erdbeben registriert.

Um den Ort der Katastrophe zu finden, verschickt Alexei Wosnesenski, der Leiter des Irkutsker Laboratoriums, hunderte von Fragebögen in ganz Sibirien. Und bekommt völlig widersprüchliche Rückmeldungen. Obgleich die Befragten zum Teil sehr weit voneinander entfernt leben, sind alle der Meinung, der Feuerball sei ganz in ihrer Nähe explodiert.

Die, die den Ort kennen, schweigen. Denn völlig unbesiedelt ist der Oberlauf der Steinigen Tunguska nicht. Dort leben Rentierzüchter vom Volk der Tungusen, die kaum Kontakt zum fernen russischen Staat und noch weniger Vertrauen in seine Vertreter haben.

Der Erste Weltkrieg bricht aus, Revolution und Bürgerkrieg folgen und immer noch ist das Epizentrum nicht gefunden. 1923 ist es Lunatscharski selbst, der Verantwortliche für Kultur der sowjetischen Regierung, der den Meteoritenforscher Leonid Kulik beauftragt, die Suche von neuem zu beginnen. Doch in der undurchdringlichen Taiga des mittelsibirischen Berglands gleicht diese Aufgabe der Suche nach der Nadel im Heuhaufen.

Es ist aber nicht Kulik, noch sonst ein Naturwissenschaftler, sondern der Ethnologe Innokenti Suslow, der zunächst einen Schritt weiterkommt. 1926 verbringt der Forscher, der die Sprache der Tungusen fließend beherrscht, einen Sommer unter den Rentierzüchtern und kommt mit sensationellen Neuigkeiten zurück.

1930, also vier Jahre später wird er eine Monographie über seine Forschungen veröffentlichen. Unter dem Titel "Materialien zum Schamanismus der Ewenki-Tungusen an der mittleren und unteren Tunguska", findet man folgende Sätze:

"Die berühmte Geschichte des Tungusischen Meteoriten, den Kulik zu finden versucht, erklärten mir die Tungusen an der Mündung der Tschunya in die Steinige Tunguska auf ganz einfache Weise. Zwar schwiegen sie zuerst beharrlich und lenkten immer wieder ab, aber als ich auf meinen Fragen bestand, erzählten sie das Folgende:

Seit langer Zeit bestanden Stammesfehden zwischen einer Gruppe tungusischer Stämme an der Steinigen Tunguska und Stämmen, die an den rechten Nebenflüssen der Unteren Tunguska wohnten. Diese Feindschaft führte schließlich dazu, dass die Schamanen ihre bösen Geister gegeneinander losschickten, wobei einer der Schamanen die Agdy zu Hilfe rief.

Die Agdy-Vögel sind aus Eisen, groß wie Birkhühner und haben feurige Augen. Von ihrem Flug über die Erde entsteht der Donner und aus ihren Augen schießen die Blitze. Einige der Schamanen stehen in enger Beziehung zu den Agdy. Sie treffen sich mit ihnen in der Unterwelt, wo sich die Seelen der Verstorbenen und die Vorfahren der Donnervögel befinden.

Am 30.Juni 1908 flog eine unabsehbare Zahl von Agdy über die Lagergründe des Stammes Schanyagir, die schreckliches Unheil anrichteten. Zelte und die Menschen die in ihnen schliefen, wurden höher als der Wald in die Luft geschleudert. 250 Rentiere verschwanden spurlos bei dem Tungusen Andrei Onkoul. Bei anderen Tungusen kamen Hunde und Rentiere um und die Vorratsgerüste mit Nahrung und Hausrat wurden vernichtet. Überall herrschte ein ungeheurer Donner, von dem die Erde Risse bekam. Die Menschen flohen in Panik nach allen Richtungen und ließen ihre letzten Habseligkeiten im Stich. All das wird den Agdy zugeschrieben.

Jetzt glauben viele Tungusen, dass an dem Ort der Katastrophe nur die Agdy leben können und seit zwanzig Jahren hat es keiner mehr gewagt, sich in dieser Gegend zu zeigen."

Als sich dann Leonid Kulik 1927 zum ersten Mal auf den Weg zum Epizentrum macht, lassen ihn seine tungusischen Führer im letzten Moment im Stich. Beinahe kommt er dabei um, aber er kann weitersuchen und stößt auf die Spuren einer ungeheuerlichen Katastrophe. Auf einer Fläche von zweitausend Quadratkilometern, fünf Mal größer als Berlin, hat die Druckwelle alle Bäume niedergewalzt. Ein Brand, der der Explosion gefolgt sein muss, hat eine noch viel größere Fläche erfasst.

Kulik vermisst die Lage und die Richtung, in die die Bäume gefallen sind. Er folgert richtig, dass die Baumkronen vom Explosionsort weg zeigen müssen. Er muss also nur in die Gegenrichtung gehen, um zum Epizentrum zu gelangen. Was er dort allerdings entdeckt, widerspricht allen Erwartungen.
Kein Krater und auch nichts, was auf irgendeinen Einschlag hindeuten würde. Stattdessen findet er nackte Baumstümpfe ohne Zweige. Den Telegrafenwald, wie Kulik ihn nennen wird. Es wirkt, als wäre ein Riese mit einer Axt am Werk gewesen, der auf mehreren Quadratkilometern jedem Baum vom Wipfel bis zum Boden die Äste abgeschlagen hätte.
Fünf Expeditionen wird Kulik bis 1939 noch an die Tungúska führen, doch er findet weder einen Meteoriten noch sonst irgendetwas, was von dem herrühren könnte, was da 1908 explodiert ist. Gegen Ende seines Lebens, wenige Monate bevor er in einem deutschen Gefangenenlager verhungert, kommt er zu dem Schluss, der heute zu den wenigen, allgemein anerkannten Forschungsergebnissen über das Tungúska Phänomen gehört: Die Explosion muss in der Luft stattgefunden haben und der Telegrafenwald blieb dort stehen, wo die Druckwelle senkrecht genau nach unten wirkte.

Heute, sechzig Jahre später, ist sich die Forschung sicher, dass die Explosion zwischen zweitausend und elftausend Metern über dem Erdboden stattgefunden hat und die freigesetzte Energie mindestens fünfhundert Mal größer als die der Hiroschimabombe war. Aber was war es, was da explodiert ist?

"KSE, das ist eine Abkürzung, die jeder kennt. Das bedeutet kosmische selbstständige Expedition zur Untersuchung des Tungúskaphänomens.
Das ist eine öffentliche Organisation. Ich bin Koordinator der Krasnoja´rsker Filiale."

Wir sind in Krasnoja´rsk in Mittelsibirien und sprechen mit Georgi Galantsew, einem großen, kräftig gebauten Mann Mitte fünfzig.

"Unsere Filialen sind über die russische Föderation verteilt. Man findet sie in großen Städten wie Moskau, Sankt Petersburg, Jekaterinburg, Novosibirsk, Tomsk, Krasnoja´rsk, Omsk, Irkutsk und noch in weiteren, weniger bedeutenden Städten. Wir koordinieren die Arbeit der Enthusiasten, die sich mit diesem Ereignis weltweiter Bedeutung, der Explosion über der Tungúska 1908 beschäftigen."

Tatsächlich ist die KSE, die mit Abstand bedeutendste Organisation, die sich mit dem Tungúskaphänomen befasst. Seit Jahrzehnten sind in ihr jene russischen Wissenschaftler, Ingenieure und Enthusiasten aller Berufe vereinigt, die sich mit den Geschehnissen im Sommer 1908 befassen.
Die Anfänge reichen in das Jahr 1946 zurück, als ein junger Ingenieur namens Anatoli Kasa´ntsew in einer Zeitschrift die Erzählung "Explosion" veröffentlicht. Die Geschehnisse des Jahres 1908 werden hier durch die Havarie eines Raumschiffes mit Atomantrieb erklärt.

In der Zeit nach Hiroschima trifft die kunstlose Erzählung den Nerv der Zeit. Beim Publikum findet sie eine ungeheure Resonanz, die Thesen sind in aller Munde. Führende Naturwissenschaftler greifen den Ingenieur scharf an und fordern ein Publikationsverbot. In der Stalinzeit ist das für den Autor eine gefährliche Entwicklung, aber es passiert ihm nichts, denn immer noch steht eine Erklärung aus für das, was sich 1908 ereignet hat. Letztlich löst die Diskussion die erste Expedition nach dem zweiten Weltkrieg aus. Ihr Leiter ist der Tomsker Physiker Gennádi Fjódorowitsch Plechánow, der spätere Gründer der KSE.

"Nach der ersten und zweiten Expedition und ersten Resultaten wandte er sich an die Akademie der Wissenschaften. Er erhielt Unterstützung.
Es waren die Atomenergieforscher, die ihm mit ihren nicht gerade bescheidenen Mitteln unter die Arme griffen. Sie meinten, da muss es doch radioaktive Anomalien geben."

Man fand tatsächlich eine ungewöhnliche Zusammensetzung von Isotopen. Doch leider ist bis heute nicht entschieden, welcher Anteil davon auf das Konto der oberirdischen Atomversuche geht, die die Atmosphäre in den fünfziger Jahren weltweit verseuchen. Dazu kommen zwei weitere Umstände

"Das Epizentrum liegt in der Einflusszone eines Paleovulkans, der durch unsere Geologen entdeckt wurde und den man auch bereits als Argument angeführt hat. Und ich sage Ihnen noch etwas: Hier befindet sich die ostsibirische Anomalie der Magnetosphäre, von denen es sechs auf der Erde gibt. Gerade einmal sechs. Sechs, die kosmischen Staub den Eintritt in die Atmosphäre ermöglichen. Nord und Südpol sind die größten. Und dann gibt es noch lokale Anomalien. Und eine davon befindet sich genau an diesem Ort."

Ähnlich wird es später mit Mikrometeoriten sein, die man in den siebziger Jahren entdeckt. Erst freut man sich, glaubt man Bestandteile des Explosionskörpers gefunden zu haben, doch dann entdeckt man, dass solche Mikrometeoriten überall und beständig auf die Erdoberfläche niedergehen.

1962 schließlich führt die Abteilung für Meteoritenforschung bei der Akademie der Wissenschaften eine große Expedition durch, die der Frage nachgehen soll, ob Ursache der Katastrophe vielleicht ein Komet war. Die Leitung hat Konstantin Florénskij, einer der bedeutendsten Geochemiker der Sowjetunion.

"Die Expedition von Florenski kam zu dem Schluss, es war ein Komet. Aber wenn man alle Forscher um einen Tisch versammelt und die legen ihre Resultate vor, dann ergeben sich äußerst interessante Widersprüche, die keine eindeutigen Ergebnisse zulassen. Und auch damals war es so. Es gab viel Kritik an Florénskij, der der Meinung war, kommen wir zum Ergebnis, es war ein Komet, holen uns den Staatspreis und schließen die Akte. Die brauchten ein Resultat. Das Geld ist ausgegeben, also ist es ein Komet."

Tatsächlich bekommt Florénskij den Staatspreis und auch bei der Akademie der Wissenschaften ist man der Meinung, dass es jetzt reicht. Doch man hat nicht mit dem Eigensinn der Männer um den Physiker Plecha´now gerechnet.

"Mit eigenen Mitteln machten wir weiter. Das ist eine Eigenschaft nicht nur der Sibirier sondern auch der Russen. Wenn die da oben nicht wollen, dann eben ohne sie. Wir nennen uns Kosmisten und wollen die Sache bis ins letzte untersuchen. Einen russischen Kosmisten kann man nicht unterdrücken."

Und tatsächlich gelingt in diesen Jahren die wohl erstaunlichste Entdeckung, die man je über das Geschehen am 30. Juni 1908 gemacht hat.
Eine Begleiterscheinung der Katastrophe, die man bis heute nicht einordnen kann. Auf einer wissenschaftlichen Konferenz der Universität Bologna 1996 stellt der Geophysiker Viktor Schura´wlew die damaligen Forschungen noch einmal vor:

"Im Frühjahr 1959 fand Gennadi Plecha´now den kurzen Bericht in der Zeitschrift Astronomische Nachrichten von 1908, dass ein Professor Weber der Kieler Universität ungewöhnliche, regelmäßige und periodische Abweichungen der Kompassnadel beobachtet hatte. Dieser Effekt hatte sich jeden Abend vom 27. bis zum 30. Juni wiederholt und jedes mal sieben Stunden gedauert. Nach der Tungúska Explosion verschwand der Effekt. Darauf fragte Plecha´now bei weiteren Observatorien nach, die 1908 bereits bestanden hatten.

Im Februar 1960 informierte ihn das Irkutsker Observatorium, man habe zwei ungewöhnliche Magnetogramme vom 30. Juni 1908 gefunden. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit seien dies Aufzeichnungen, die mit dem Tungúska Phänomen zusammenhingen.

Eine Analyse dieser Aufzeichnungen durch Forscher der Universität von Omsk ergab keinerlei Ähnlichkeiten mit magnetischen Effekten, wie sie durch Meteoriten ausgelöst werden. Am ehesten waren sie mit regionalen Magnetstürmen vergleichbar, die man 1958 nach Atomversuchen im Südpazifik gemessen hatte. Diese neuen geomagnetischen Effekte hatten damals eine Sensation ausgelöst. Aber noch sensationeller war die Erkenntnis, dass man am 30. Juni 1908 auf unserem Planeten etwas fast identisches gemessen hatte."

Die russische Wissenschaftlervereinigung KSE hat eine Liste mit den Folge – und Begleitwirkungen der Tungúskatastrophe aufgestellt, die unbezweifelbar feststehen. Dazu gehören die geomagnetischen Effekte, die man sonst nur noch bei Atomversuchen beobachtet hat und die hellen Nächte vor und nach der Katastrophe. Was die hellen Nächte angeht, so sind sie durch den Staub erklärbar, der durch die Explosion so hoch gewirbelt wurde, dass er das Sonnenlicht auch auf sonst dunkle Teile der Erde reflektieren konnte. Für die optischen Anomalien vor der Katastrophe dagegen steht eine allgemein akzeptierte Lösung immer noch aus.

Bei den geomagnetischen Effekten ist es ähnlich. Für die lokalen Schwankungen im Magnetfeld der Erde, die man 1908 in Irkutsk aufgezeichnet hat, gibt es zwar keine allgemein akzeptierte Erklärung aber immerhin eine Parallele zu den Störungen der Magnetsphäre nach Atombombenversuchen. Was die Aufzeichnungen des Professor Weber aus Kiel dagegen angeht, kennt man für seine Beobachtungen nicht einmal eine Parallele, geschweige denn eine Lösung des rätselhaften Phänomens. Es ist innerhalb der KSE, der russischen Wissenschaftlervereinigung sogar lange umstritten gewesen, ob man Störungen im Magnetfeld vor der Explosion überhaupt zu den unbezweifelbaren Tatsachen zählen soll. Den Ausschlag hat schließlich der zeitliche Zusammenhang gegeben, der zu deutlich ist, um nur purer Zufall zu sein.
Wie zu Kuliks Zeiten wird immer noch nach einem zweifelsfreien Nachweis irgendeines Bestandteils dessen gesucht, was die Explosion 1908 ausgelöst hat. Den letzten, großen Versuch in diese Richtung haben Italiener unternommen.

"Es gibt die bekannte Gruppe der Universität Bologna, die in Kooperation mit uns seit 1991 das Problem untersucht. Ihnen geht es darum, Spuren jenes kosmischen Körpers zu finden.
Ihre Methode besteht darin, in der Vegetation nach Mikrospuren dessen zu suchen, was über der Tungúska explodiert ist. Sie haben eine exotische Teilchenmischung gefunden, die ihrer Ansicht nach auf den Verursacher der Explosion zurückzuführen ist. Aber das ist umstritten und die Diskussion ist nicht entschieden, ob diese Teilchen wirklich auf den Explosionsauslöser zurückzuführen sind."

Längst zieht der Explosionsort auch Fanatiker, Verschwörungstheoretiker und Sektenanhänger aller Couleur an. Sie alle kommen in Krasnoja´rsk vorbei, dem Ausgangspunkt für sämtliche Expeditionen zum Epizentrum und bitten die KSE ihnen behilflich zu sein

"1998 fand die Expedition der Gruppe Koso Kawai statt. Er selbst ist ein Adliger, ein Samurai. Nachdem sie uns Geschenke übergeben hatten und so weiter, wollten sie dass wir sie zum Epizentrum bringen- Dort meinten sie, wir werden da eine Nacht verbringen mit unseren Fahnen. Interessante Fahnen hatten die. So mit Wappen darauf. Ich habe sie selbst gesehen. Dann baten sie uns, sie allein zu lassen. Sie selbst würden am Epizentrum übernachten. Es gab entsetzliche viele Kriebelmücken. Wir dachten, wie werden die da die Nacht im Freien überstehen? Aber wenn sie das so wollen, na gut. Die hatten Chemie dabei und bespritzten alles, damit die Fliegen sie nicht störten. Die Bäume waren schwarz. Am Morgen gingen wir zu ihnen und sie waren am beten. Später erzählten sie uns, um was es gegangen war: 'Ihr Russen habt unser Raumschiff zerstört, das von einer zweitausendjährigen Expedition zurückgekehrt war. Sie waren auf der Suche nach der Zivilisation gewesen, von der wir abstammen.'

Wie zerstört, was zerstört? Was war das für ein Unsinn. Da fragten sie uns, ob wir uns an den Krieg von 1904 erinnern könnten, den wir verloren hatten. Wir verstanden immer noch nicht.
Da erklärten sie uns, wir hätten das Raumschiff angeblich aus Rache zerstört.
Alles endete in gegenseitiger Freundschaft und Lächeln.
Professor Kosa Kawai. Ich habe auch ein Foto von ihm.
Er arbeitet im Weltraumlabor des Verteidigungsministeriums. Er ist ein bedeutender reicher, normaler Mann. Aber Fantasie hat er. Das komische ist, bei vielen, die dorthin kommen, macht der Verstand Tschick …"

Seit 1958 finden jedes Jahr Expeditionen an die Tungúska statt. Es gibt Forschungsergebnisse zur Thermoluminiszenz der Mineralien, zur Mutationsrate im Epizentrum, zu den verschiedenen Explosionsorten und zu praktisch allem, was wissenschaftliche Instrumente messen können. Man kann sie in Konferenzmaterialien und Hunderten von Büchern und Aufsätzen nachlesen.

"Das Jahrhundertjubiläum steht bevor und wir werden in Krasnoja´rsk eine internationale wissenschaftliche Konferenz abhalten, die diesem Ereignis gewidmet ist. Dort werden alle Forscher der Welt hinkommen, um eine Bilanz von hundert Jahren Forschung zu ziehen und die weitere Forschungsausrichtung in internationaler Arbeitsteilung festzulegen. Es geht allgemein immer noch darum, wie und was damals passiert ist. Bis jetzt gibt es ungefähr 200 Hypothesen, die von verschiedenen Schulen in Europa, in Russland und Asien vertreten werden. Was wirklich geschehen ist, ist der Menschheit nicht klar. Leider können weder wir Forscher noch die offizielle Wissenschaft eine eindeutige Antwort geben."

Die Wissenschaft tut sich schwer mit singulären Ereignissen solcher Art. Ihre Domäne ist die Prüfung im wiederholbaren Experiment. Aber was soll hier wiederholt werden?

Das hindert allerdings Koryphäen fast aller naturwissenschaftlicher Disziplinen keineswegs daran, ihre Thesen mit geradezu missionarischem Eifer zu vertreten. Es gibt Verfechter der Kometentheorie, wie auch die, die immer noch für einen Meteor plädieren. Aber selbst innerhalb der beiden Hauptrichtungen kann man sich nicht darauf einigen, aus was denn der Komet oder Meteor jetzt bestanden hat. Und es gibt noch viel exotischere Hypothesen. Die beiden Nobelpreisträger Libby und Cohen legen 1965 ein Papier vor, in dem sie einen Zusammenstoß mit Antimaterie für die logische Erklärung halten. Der Astrophysiker Wolfgang Kundt von der Bonner Universität wiederum glaubt an eine gigantische Erdgasexplosion.
Die Zahl der Berechnungen, Überlegungen und Schriften ist kaum noch zu zählen. Georgi Galantsew, der sich seit dreißig Jahren mit dem Thema befasst und hunderte von wissenschaftlichen Veröffentlichungen gelesen hat, hält Distanz.

"Man muss das mit Humor betrachten, muss die menschliche Schwäche bedenken. Die Professoren und Akademiker vertreten bestimmte Fachrichtungen. Das ist ihr Leben und sie werden dafür bezahlt. Sie können nur schwer über ihren Horizont blicken. Sie können auch ihre Überzeugungen nicht so einfach aufgeben. Wir dagegen können uns im Rahmen einer öffentlichen Organisation diese Freiheit geben."

Die russische Wissenschaftlervereinigung KSE beschäftigt sich natürlich weiterhin vor allem mit der Erforschung der Ereignisse von 1908. Aber man fragt sich auch viel weitergehende Fragen.

"Es geht auch um methodologische Aspekte. Vielleicht suchen wir nicht richtig? Wenn man alle Forschungsrichtungen zusammenbringt und die ihre Ergebnisse vorlegen, dann können die sich nicht darauf einigen, was denn jetzt das Resultat ist. Was ist das nur für eine seltsame Erscheinung, dieser Meteorit? Wir haben mittlerweile Elektronenmikroskope, können Spektralanalysen vornehmen und schaffen es trotzdem nicht, das Problem zu lösen. Vielleicht liegt es an der Art, wie wir an das Problem herangehen?

Vielleicht an unseren Instrumenten? Vielleicht benutzen wir nicht die richtigen, um Spuren dieser Erscheinung zu finden? Der methodologische Aspekt ist einer der wichtigsten, den wir bei der Konferenz in Krasnoja´rsk behandeln werden."

Solche Diskussionen finden ihren Widerhall im Tungúski Wéstnik, der Zeitschrift der KSE. Viel beachtet werden die Veröffentlichungen von Boris Burdjuków, einem Wissenschaftstheroetiker. Im Sommer 2004 schreibt er einen längeren Artikel über die Grenzen der Naturwissenschaft. Unter anderem findet sich dort folgende Überlegung:

"Was, wenn es etwas war, was die Menschheit mit ihrem heutigen Wissen nicht begreifen kann? Man stelle sich vor, im achtzehnten Jahrhundert wäre eine Atombombe explodiert und die bedeutendsten Wissenschaftler dieser Zeit versuchten, ihre Folgen zu erklären. Auch Newton hätte keine Chance gehabt. Was, wenn wir in der gleichen Situation sind?"
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