Das Geflecht entwirren

Der italienische Historiker Carlo Ginzburg bevorzugt ungewöhnliche Wege der Forschung. In einem seiner letzten Bücher zeigt er das Konterfei des Sherlock Holmes, der Kopf ist allerdings zusammengesetzt aus lauter Labyrinthen. In seinem neuen Werk "Faden und Fährten" versucht er nun die wahren und falschen Spuren von Geschichten zu deuten.
Den 1939 in Turin geborenen Historiker Carlo Ginzburg interessieren nicht die ausgetretenen Forschungspfade der Geschichtswissenschaft. Unter den Vertretern seines Faches gilt er als "Querdenker". Deutlich zeigt sich das bereits an den Titeln seiner Bücher. Eines heißt "Der Käse und die Würmer", ein anderes "Holzaugen".

Bei den nun vorliegenden Texten seines Buches "Faden und Fährten" handelt es sich um eine Auswahl von Arbeiten, die 2006 in Italien als Buch erschienenen sind. Der Titel bezieht sich auf den Mythos, dass es Theseus nur mit Hilfe von Ariadnes Faden gelang, aus dem Labyrinth herauszufinden, in dem er den Minotaurus erschlagen hat. "Von den Fährten, die Theseus hinterließ, als er im Labyrinth umherlief, erzählt der Mythos nichts." Solchen "Fährten" aber gehört Ginzburgs Aufmerksamkeit.

In den vorliegenden sieben Aufsätzen ist die Frage zentral: Wie lassen sich, indem man Spuren verfolgt, wahre Geschichten erzählen? Dabei spannt Ginzburg einen Bogen von "Hexen und Schamanen" über die Judenvernichtung ("Nur ein Zeuge") bis zu Siegfried Kracauers Buch "Geschichte: Vor den letzten Dingen".

Carlo Ginzburg ist ein Vertreter der "italienischen Mikrogeschichte". Diese Richtung der Geschichtswissenschaft geht von kleinsten Zeugnissen, von Details, von Geschichten im Miniaturformat aus. Mikrogeschichte versteht sich als Gegenmodell zu einer Geschichtsschreibung, die sich den Großen, den Mächtigen, den Siegern zuwendet. Ginzburg lässt die "kleinen Leute" zu Wort kommen, wenn er in "Der Käse und die Würmer" das Weltbild eines Müllers zu Beginn des 16. Jahrhunderts entfaltet. Damit stellt er sich in eine Traditionslinie, die zu Walter Benjamin führt, der dafür plädierte, Geschichte aus der Perspektive von unten zu betrachten.

In Ginzburgs Aufsatz "Unus testis – Nur ein Zeuge. Die Judenvernichtung und das Realitätsprinzip" wird die Frage aufgeworfen, ob ein Zeuge genügt, um ein Geschehen zu beglaubigen. Ein Überlebender eines Pogroms, bei dem im Mai 1348 eine jüdische Gemeinde ausgelöscht wurde, hält in wenigen Zeilen auf einer Thorarolle fest, was sich zugetragen hat. Doch nach der römischen und auch nach der jüdischen Rechtsprechung ist "ein Zeuge kein Zeuge". Ein zweites Dokument wäre erforderlich, um das Ereignis als einen historischen Fakt ansehen zu können. An diesem Fall macht Ginzburg sehr überzeugend deutlich, wie unsinnig es wäre, juristische Prinzipien auf die Geschichtswissenschaft übertragen zu wollen.

"Das Handwerk der Historiker", so Ginzburg in der Einleitung, "handelt von etwas, das Teil unser aller Leben ist: Das Geflecht von Wahr, Falsch und Fiktiv zu entwirren, das das Webmuster unseres In-der-Welt-Seins bildet." Diese Maxime bildet die Grundlage von Ginzburgs historischen Forschungen, die, ausgehend vom Kleinsten, entscheidende Fragen stellt, die nicht nur für die Geschichtsschreibung relevant sind.

Besprochen von Michael Opitz

Carlo Ginzburg: Faden und Fährten. Wahr falsch fiktiv
Aus dem Italienischen von Vitoria Lorini
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2013
156 Seiten, 22,90 Euro