Das Gefängnis der Familie

25.07.2013
Jessica Mitford war eine der sechs Töchter eines englischen Barons. Jetzt ist ihre selbstironische und wenig selbstkritische Autobiografie erschienen, die ihre Familiengeschichte in den Wirren des Zweiten Weltkrieges erzählt. Und das ist komisch und boshaft zugleich.
Jessica Mitford (1917 - 1996) war eine der sechs bemerkenswerten Töchter von Lord und Lady Redesdale, die fast alle etwas extreme Neigungen pflegten - allerdings sehr unterschiedliche. Schon als Teenager fochten Jessica, die sich bereits für den Kommunismus zu erwärmen begann und die ältere Unity Valkyrie (sie hieß tatsächlich so), die Hitler glühend verehrte, den Kampf der Ideologien in ihrem Kinderzimmer aus. Doch zuvor waren die beiden in der Rebellion gegen die emotionale wie intellektuelle Armseligkeit, gegen die Enge und Borniertheit ihres Elternhauses eng verbunden: Sie erfanden eine eigene Sprache und eine eigene Kultur: das "Honnische".

Das englische Kürzel "Hon" steht für "Honourable", das die Mitfords im Namen führten; doch in "honnisch" stecken auch die "Hunnen", das gängige englische Schimpfwort für die Deutschen - und die "Hennen", die Hühnerzucht, mit der die Mutter eigenes Geld verdiente. Jessica blieb jede Schulbildung verwehrt. Ihr heißester Wunsch, das Gefängnis der Familie zu verlassen, führte sie mit 18 Jahren in die Arme des jungen Rebellen Esmond Romilly, einem Neffen Winston Churchills, und direkt in den Spanischen Bürgerkrieg.

Dieweil hatte Unity in München Adolf Hitler kennengelernt und gehörte fortan zu seiner Entourage; eine andere Schwester, Diana, heiratete nach einer ersten Ehe mit dem Guinness-Erben den britischen Faschistenführer Oswald Mosley.

Nancy Mitford, die Älteste, brillierte derweil als Autorin erfolgreicher Gesellschaftsromane und mokierte sich mit distanzierter Ironie sowohl über die Borniertheit ihrer Klasse und ihres Elternhauses, also auch über die politischen Leidenschaften ihrer Schwestern.

Realitätsnah und kühl
Doch Jessicas Schilderung der sozialen wie politischen Verhältnisse in England am Vorabend des 2. Weltkriegs ist sehr realitätsnah und eher kühl: die ganz und gar nicht eindeutige Haltung gegenüber Hitler-Deutschland zwischen Furcht, Ablehnung und Bewunderung; die Debatten und Befürchtungen der Linken, der Zwang, irgendwie Partei zu ergreifen, der dem Freiheitsstreben der jungen Leute, die oft jeden Militarismus ablehnten, völlig zuwiderlief.

Von der Familie verstoßen und bedrängt von Schulden wanderte Jessica mit ihrem jungen Ehemann im Frühjahr 1939 nach Amerika aus, und dort schlugen sie sich recht erfolgreich durch - mit dem naseweisen Selbstbewusstsein junger Aristokraten, sozialistischen Überzeugungen und großer Abenteuerlust. Ihre durchaus selbstironische, wenn auch nicht selbstkritische Autobiografie endet mit dem Jahr 1940.

Erschienen ist sie 1960. Romilly war als Kampfflieger im Krieg umgekommen. Auch Unity starb früh: Bei Ausbruch des Krieges mit England hatte sie sich in München eine Kugel in den Kopf geschossen, und erlag 1947 ihrer Hirnverletzung.

Jessica aber blieb in Amerika, wurde Mitglied der Kommunistischen Partei, heiratete einen Menschenrechtsanwalt, profilierte sich als Journalistin, trat wieder aus der Partei aus und veröffentlichte mehrere Bücher. Schließlich pflegte sie auch wieder Kontakt zu den Überlebenden der Familie - ausgenommen den Vater und Diana Mosley, die bis zu ihrem Lebensende überzeugte Faschistin blieb.

Besprochen von Katharina Döbler

Jessica Mitford: Hunnen und Rebellen
Aus dem Englischen von Joachim Kalka
Berenberg Verlag, Berlin 2013
336 Seiten, 25 Euro
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