Das ganze Leben ein Aprilscherz

27.08.2010
Der Dadaismus lässt grüßen: Daniil Charms war der Pionier der russischen Absurde und ein Meister der kleinen Form. Der Schweizer Merian Verlag hat jetzt eine CD über Leben und Werk des Künstlers veröffentlicht.
"Die Poesie ist kein Griesbrei, den man, ohne zu kauen, schluckt und sogleich wieder vergisst. Im übrigen soll man Gedichte so schreiben, dass sie – wenn man sie durchs Fenster wirft – die Scheiben zerschlagen."

1927 gründete Daniil Charms mit Freunden die Künstlervereinigung "Oberiu" – eine russische Abkürzung für die "Vereinigung realer Kunst". Das "U" am Ende war ein kleiner Scherz, auf Kosten aller ehrwürdigen russischen "Ismen": vom Symbolismus bis hin zum Akmeismus. Nicht ganz so ehrwürdig ging es bei den Oberiuten zu. Charms zum Beispiel saß bisweilen auf einem Schrank, um seine Geschichten vorzulesen. Kunst hatte ihre eigene Logik:

"Frau kommt in den Laden, Gespräch: Guten Tag. wissen Sie schon ..?.... Sie wissen nicht, was? Niemand sagte etwas. Niemand? Türklingeln"

Fast ein Dutzend solcher Szenen sind über das knapp 50-minütige Hörspiel hinweg verstreut – Frühformen des absurden Theaters, auch der Dadaismus lässt grüßen. Die CD trägt in ihrer Dramaturgie diesen Elementen Rechnung: geschickt, in schnellem Wechsel (und gewollten Brüchen) sind die Mini-Inszenierungen in Ausschnitte aus Charms´ Briefen eingebettet. Dazu kommen wiederholte Musik- und Atmo-Akzente und biografische Informationen. Und gerade die sind zentral für ein Verständnis des Werks von Daniil Charms:

"Daniil, I. Juwatschow, 1905 in Petersburg geboren, hatte nicht nur die Eigenart, sich immer wieder neue Namen zuzulegen, die Türschilder ständig auszuwechseln und Hausverwalter, Nachbarn und Freunde zu verwirren - nein, Charms: dies war ihm das liebste seiner mehr als 30 Pseudonyme – Charms war vor allem einer, der wunderliche Geschichten erzählte. Zum Beispiel, dass er als Aprilscherz zur Welt gekommen war. Sein ganzes Leben war ein einziger Aprilscherz, schrecklich und lächerlich noch in seinem Tod."

1930 wurde Daniil Charms erstmals verhaftet. In der konservativen Stimmung der jungen Sowjetunion wirkten seine unverständlichen Gedichte und Geschichten wie Sprengstoff. Sie ließen sich nicht instrumentalisieren für die Propaganda-Zwecke der Partei. Sie galten als anti-sowjetisch, als monarchistisch, hielten angeblich die Arbeiter vom "Aufbau des Sozialismus" ab. Und Charms, der - nebenbei – auch das absolute musikalische Gehör besaß, war überhaupt eine Provokation für das herrschende Mittelmaß:

"Seine sonderbare Kleidung ließ ihn englisch erscheinen. Hosen, die bis zum Knie reichten, lange Strümpfe, oft trug er Stock und Melone, und immer hatte er eine Pfeife zwischen den Zähnen."

Im Sommer 1941, kurz nach dem Kriegsüberfall der Nazis wurde Charms - der perfekt deutsch sprach - erneut verhaftet. In der entsetzlichen Not während der Leningrader Blockade verhungerte er in einer Zelle der Gefängnispsychiatrie. Daniil Charms wurde 36 Jahre alt.

Die Absurdität und Tragik im Leben von Daniil Charms übertrifft den traurigen, abgründigen Humor seiner Texte. Dies würdig und dennoch von leichter Hand in eine Form zu bringen, ist keine leichte Aufgabe. Der Schweizer Rundfunk hat sie mit diesem Hörspiel gemeistert. Unterstützt von wunderbaren Sprechern wie Uelli Jäggi oder Felix von Mantteuffel, die mit Hingabe und Sensibilität bei der Sache sind. Und sieht man mal davon ab, dass so gut wie alle russischen Eigennamen ausgerechnet jeweils auf der falschen Silbe betont werden, dann ist dieser Einblick in Leben und Werk des großartigen Daniil Charms ein außerordentlicher Hörgenuss.

"Darf ich mich zu ihnen setzen? Ja, erstaunliche Geschichte, Iwan . ..Frau hat Korablews Frau gebissen. Wenn der dessen gebissen hätte, ja, dann … ich bin kein bisschen erstaunt."

Besprochen von Olga Hochweis

Daniil Charms: Wie schrecklich schwinden unsere Kräfte
Christoph Merian Verlag 2010
1 CD, 12,99 Euro