Das Fremde und das Eigene

Von Heribert Seifert |
Das Fremde genießt in der Wahrnehmung unserer Medien einen bemerkenswerten Exotenbonus. Die Abweichung vom Normalen und die Andersartigkeit in Verhalten und Kultur können in der Berichterstattung auf Interesse und Verständnis zählen. Seit der europäischen Aufklärung ist in den davon beeinflussten Ländern der Zweifel an der Überlegenheit der eigenen Kultur selbstverständlich.
Die Bereitschaft zur unvoreingenommen Würdigung des ganz Anderen und zur Infragestellung der normativen Grundlagen des eigenen gesellschaftlichen Lebens ist Voraussetzung für die Zulassung zur öffentlichen Debatte. Das gilt selbst dann, wenn dieses Fremde nach unseren Vorstellungen abstoßend und grausam ist, sogar, wenn es gegen Prinzipien unserer Verfassung verstößt. Presse und Fernsehen bieten uns zum Beispiel immer wieder Reportagen, in denen um Verständnis für die Verschleierung muslimischer Frauen geworben wird. Schleierträgerinnen haben Gelegenheit, die Wahl dieses sie hierzulande sichtbar ausgrenzenden Kleidungsstücks als eine Folge ihrer sehr persönlichen Wendung zu traditionellen Formen ihrer Religion zu erklären. Auslandskorrespondenten und mancherlei Experten für ethnopolitische Folklore arbeiten daran, unsere "Vorurteile" abzubauen und bemühen sich, mit viel Empathie, das Fremde von innen heraus verständlich zu machen und nicht von außen, also nach den hierzulande geltenden Maßstäben zu be- und verurteilen.

All dies gilt aber nur, sofern das Andersartige und Fremde im Rahmen der großen Wanderungsbewegungen von außen in unseren Alltag hineingekommen ist. Trifft der herrschende Zeitgeist in Gestalt der journalistischen Vernunft aber auf Nischen und Milieus, die trotzig weiter an überlieferten Formen europäisch-abendländischer Kultur und Religion festhalten, dann ändert sich schlagartig der Ton. Dieselben Propagandisten einer durch und durch säkularisierten, vielleicht sogar schon neoheidnischen Gesellschaft können zwar schwärmen über die "Spiritualität" importierter Religionen, geraten aber sofort in flammenden Zorn und Empörung, wenn sie zum Beispiel auf Christen treffen, für die Religion mehr ist als nur eine Lifestyle-Option. Traditionelles Christentum ist zwar für die Mehrheit hierzulande mittlerweile ebenso fremd wie etwa die Versenkung in islamische Mystik, kann aber trotz solcher Exotik nicht auf Verständnis und den Willen zur Einfühlung zählen. So stand zum Beispiel in einem unter Verantwortung der "Bundeszentrale für politische Bildung" in hoher Auflage in die Schulen gedrückten Schülermagazin die sympathisierende Reportage über eine Islam-Konvertitin neben dem bösartig gezeichneten Porträt einer jungen evangelikalen Christin. Die eine findet den "Sinn des Lebens", die andere schließt sich einer "missionarisch eingestellten" und "gegenüber Andersgläubigen durchaus intoleranten" Sekte an, heißt es da in eindeutiger Parteinahme. So einfach ist das, weitere Recherche oder gar der Versuch, auch die Christin zu verstehen, erübrigen sich.

Genauso funktionierte auch die öffentliche Empörung über die Rücknahme einer Kirchenstrafe durch Papst Benedikt XVI. Wo mediale Übersetzungsarbeit gefordert war, die dem weitgehend ahnungslosen Publikum den angeblichen "Eigensinn" der katholischen Kirche der säkularen Welt gegenüber hätte erläutern müssen, herrschte hanebüchne Ignoranz und wüste Pöbelei, wurde, in grotesker Verkehrung der Tatsachen, die "Rehabilitierung eines Holocaust-Leugners" beschworen. Wer auch nur andeutete, dass zwischen der pastoralen Sorge um die Einheit der Kirche und einem politischem Mandat ein Unterschied bestehen könne, geriet rasch selber in die Nähe jener "Leugner".

Deutlich wurde dabei, wie sehr diese Kirche, die zu den Fundamenten der europäischen Kultur und Zivilisation gehört, hierzulande schon fremd und unverstanden geworden ist. Medien und Öffentlichkeit haben offenbar kein Interesse mehr daran, jenes Widerständige zu begreifen, das die Kirche den herrschenden Gewissheiten entgegensetzt. Sie wollen oder können an ihr nur wahrnehmen, was sich mit den gängigen Phrasen des politischen Betriebs verstehen und was sich an den Überzeugungen einer sich stets fortschrittlich gerierenden permissiven Alltagsmoral messen lässt. Was sich als unbestechlich-investigative Aufklärung über vermeintlich reaktionäre Traditionen und Milieus spreizt, ist in Wirklichkeit nichts anderes als eine aus Ahnungslosigkeit geborene Aggression.

Heribert Seifert, geboren 1948 in Dorsten/Westfalen, ist Lehrer und freier Publizist.