Das fragile Leben

„Zwischen den Fronten“ erkundet das fragile Leben in einem kleinen Dorf irgendwo im kolumbianischen Hochland, das abwechselnd von Guerillakämpfern, Paramilitärs oder Soldaten besetzt wird. Mit enormen Einfühlungsvermögen schreibt der 50-jährige kolumbianische Schriftsteller Evelio Rosero über ein Thema, das sich eigentlich gegen jede Darstellung sperrt. „Zwischen den Fronten“ ist ausgewählt für die <papaya:link href="http:///www.litprom.de/144.html“ text="Weltempfänger-Bestenliste“ title="Weltempfänger-Bestenliste“ target="_blank“ />.
Der in Bogota geborene, 50-jährige kolumbianische Schriftsteller Evelio Rosero ist hierzulande ein Unbekannter, obwohl er seit dem 21. Lebensjahr zahlreiche Kurzgeschichten und neun Romane veröffentlicht und mehrere Literaturpreise gewonnen hat.

Man kann sich nur wünschen, dass sich das mit seinem jetzt übersetzten Roman „Zwischen den Fronten“ ändert, denn hier ist ein Autor zu entdecken, der mit enormen Einfühlungsvermögen über ein Thema schreibt, das sich eigentlich gegen jede Darstellung sperrt.

Rosero erkundet genau jene Situation, die der deutsche Titel wiedergibt: das fragile Leben in einem kleinen Dorf irgendwo im kolumbianischen Hochland, das quasi zwischen den Fronten liegt, das heißt abwechselnd von Guerillakämpfern, Paramilitärs oder Regierungssoldaten besetzt wird.
In dem winzigen Nest San Jose lebt seit Ewigkeiten das Lehrerehepaar Ismael und Otilia – beide inzwischen längst pensioniert. Der alte Herr, der uns die Geschichte erzählt, vertreibt sich seine Zeit mit lüsternen Betrachtungen junger Frauen, insbesondere seiner Nachbarin. Jeden Tag nimmt er das Orangenpflücken als Vorwand, um auf die Leiter zu steigen und über die Mauer in den Nachbargarten zu schielen, in der sich eine junge Mutter nackt sonnenbadet.

Der alte Mann weiß durchaus um das etwas Anrüchige seiner kleinen, letztlich jedoch harmlosen erotischen Leidenschaft, für die ihn seine Frau beschimpft.

So harmlos beginnt der Roman. Doch dann lässt Evelio Rosero die Situation langsam kippen. Der Lehrer gesteht bei seinen Rundgängen durch den Ort, dass hinter der Fassade des beschaulichen Dorffriedens ständig die Angst vor der irrationalen Gewalt bewaffneter Gruppen lauert.

Immer wieder haben sie San Jose überfallen, einzelne Bewohner ermordet, andere entführt, um Lösegelder zu erpressen. Plötzlich tauchen erneut Uniformierte auf, entführen Mann und Sohn der Nachbarin, töten einige der Dorfbewohner. Als wenig später Soldaten eintreffen, werden wieder einige Einheimische erschossen, andere verhaftet. Dann verschwindet Otilia, die Frau des Lehrers.

Ismael ist verzweifelt, streift durch den Ort, klopft an zahlreiche Haustüren, während um ihn herum die Strassen allmählich zur Kampfzone werden, die Einheimischen zu Geiseln. Wahllos wird getötet, wer den Eindringlingen welcher Couleur auch immer in die Quere kommt. Pardon wird nicht gegeben, Mitleid ist ein Fremdwort. Der Ort versinkt in Chaos.
Der Lehrer schildert all diese Geschehnisse, als ob sie ihn gar nicht beträfen. Wie ein Traumwandler läuft er durch die Straßen, verliert zwischenzeitlich das Gedächtnis, registriert den allgegenwärtigen Tod, das völlig sinnlose Sterben.

Ohne seine Frau ist er ein Nichts, unfähig zu leben, unfähig zu sterben. Er verfällt, verwahrlost. Furchtlos taumelt er durch den Ort, ein Greis, den die Uniformierten in ihrem kaltblütigen Mordrausch verschonen. Während die anderen fliehen, der Ort ausstirbt, harrt Ismael in der Hoffnung aus, dass seine Frau wieder zurückkehrt.

Seit über 50 Jahren herrscht in Kolumbien ein blutiger, erbarmungsloser Bürgerkrieg, der bereits unendlich viele unschuldige Opfer gefordert hat. Doch die spärlichen Pressemeldungen vermögen sein wahres Ausmaß nicht abzubilden.

Das aber gelingt Evelio Roseros Roman. Er bezieht nie politisch Stellung, bringt uns stattdessen eindringlich nahe, was der Krieg für die unbeteiligten, die einfachen Bürger bedeutet, die zwischen die Fronten geraten.

Wir leiden mit Ismael. Ein schmaler Atem raubender Roman, der ein tiefes Verständnis für das grausame Schicksal ziviler Kriegsopfer weckt – höchst aktuell.

Rezensiert von Johannes Kaiser

Evelio Rosero: Zwischen den Fronten
Aus dem Spanischen von Matthias Strobel,
Berlin Verlag, Berlin 2008,
175 Seiten, 19,90 Euro