Das Folterverbot

Von Dieter Rulff |
Als Wolfgang Schäuble noch ein Abgeordneter der Opposition war, sagte er unmissverständlich: "Ich halte keine Situation für denkbar, in der Folter gerechtfertigt werden kann." Als er Bundesinnenminister geworden war, hat er zum gleichen Thema festgestellt, dass man Informationen auch dann nutzen müsse, wenn man sich nicht sicher sei, dass sie unter vollkommen rechtsstaatlichen Bedingungen erlangt wurden.
Viele erkennen in diesen beiden Aussagen einen Widerspruch. Und nicht wenige sehen mit der zweiten Position die rote Linie überschritten, welche die verfassungsrechtliche Grundlage unserer Gesellschaft markiert. Mancher wiederum nimmt sie zum Anlass, über den möglichen Nutzen von Folter zu spekulieren. Und wie immer wenn es um Moral geht, wächst die öffentliche Erregung in dem Maße, wie man sich diese wechselseitig absprechen kann.

Da werden einerseits Gefährdungssituationen konstruiert, die der gleichen kruden Logik folgen, mit der einst das Gewissen von Wehrdienstverweigerern geprüft wurde. Da wird andererseits Nichtwissen als Gewissheit genommen, und mögliche Einzelfälle gewinnen die monströse Gestalt systematischer staatlicher Folter.

Vielleicht ist es deshalb sinnvoll, sich zunächst zu vergewissern, weshalb für Rechtsstaaten das Folterverbot konstitutiv ist. Denn erst daran ließe sich die Zulässigkeit einer Ausnahme ermessen. Das Urteil war eindeutig, als Folter noch als Mittel des Machterhalts von Diktatoren angesehen wurde. Seit ihr Einsatz aber dem Schutz von Leben gilt, ist die Bewertung schwieriger.

Lässt sich von dieser höheren moralischen Warte aus Folter rechtfertigen? Eine Beantwortung dieser Frage führt zunächst zu der paradoxen Erkenntnis, dass Folter umso brutaler sein muss, je mehr sie ihrer moralischen Legitimation gerecht werden will. Denn eine Folter, die nicht zu einem Ergebnis führt, eine Folter, die kein Geständnis erzwingt, dank derer kein Leben gerettet werden kann, verliert ihr moralisches Äquivalent.

Dieser Verlust verweist unmittelbar auf den wesentlichen Einwand gegen Folter. Ihr selbst wohnt kein normatives Kriterium inne. Sie ist immer nur brutales Mittel zu einem mehr oder minder moralischen Zweck. Der von ihr Betroffene hat keine Möglichkeit eines rechtlichen Einspruchs. Wenn aber nicht für den Einzelnen, dann besteht auch für die Gesellschaft keine Möglichkeit einer rechtsstaatlichen Prüfung. Damit aber ist das Wesen des Rechtsstaates tangiert. Denn dieses besteht gerade in der jederzeitigen rechtlichen Überprüfbarkeit seiner Maßnahmen.

Nun werden unter dem Begriff der Folter die verschiedensten staatlichen Praktiken gefasst. In den siebziger Jahren galt manchem bereits die isolierende Inhaftierung von Gefangenen der RAF als Folter, heute subsumieren einige auch die Todesstrafe darunter. Gegen beides mag es viele gute Gründe geben - fehlende Rechtsstaatlichkeit gehörte jedoch nicht dazu.

In einer rechtsstaatlichen Ordnung sind auch repressive Praktiken erlaubt und über die Mittel, einen Verdächtigen zu Aussagen zu bewegen, mag es immer wieder Differenzen geben. Sie sind jedoch legitim solange sie einer rechtlichen Überprüfung zugänglich sind. Das klingt nüchtern, bewahrt aber vor überschwappenden, moralisierenden Debatten, wie sie die letzten Wochen prägten. Es schützt aber auch vor Erwägungen, es könne einzelfallbezogene Ausnahmen geben, die in das Ermessen der Exekutive gestellt werden.

Das Gebot der Rechtsstaatlichkeit verpflichtet jeden Staatsbediensteten, es an jedem Ort seiner Tätigkeit durchzusetzen. Wenn Beamte, deren Aufgabe die Strafverfolgung ist, Gefangene vernehmen, bei denen der Verdacht besteht, dass sie gefoltert werden, haben sie sich vorher vom Gegenteil zu überzeugen. Von den BKA Beamten, die in einem syrischen Gefängnis Verhöre durchführten, ist nichts dergleichen bekannt. Sie haben bestenfalls nutzlos gehandelt, schlimmstenfalls rechtsstaatliche Grundsätze verletzt.

Auch Mitarbeiter der Nachrichtendienste haben diese Grundsätze zu verteidigen - auch dann, wenn sie mit anderen Diensten kooperieren. Sie dürfen allerdings deren Erkenntnisse verwenden, unabhängig von der moralischen Beschaffenheit der Quelle, aus der sie sprudeln. Sie müssen zwar auf rechtsstaatliche Verfahrensweisen hinwirken, müssen sie aber nicht zum Maßstab der erhaltenen Informationen machen. Auf diesen Umstand hat Wolfgang Schäuble mit seinem zweiten Zitat abgehoben.

Er hat also keinen Widerspruch formuliert. Wohl aber hat er es unterlassen, seine Beamten an ihre Pflicht zu erinnern, auf rechtsstaatliche Verfahren zu drängen. Womöglich aus schlechtem Grund. Denn dass die Aussicht, diese Informationen zu erhalten umso unwahrscheinlicher ist, je stärker auf Rechtsstaatlichkeit gepocht wird, ist eine der Paradoxien des Geschäfts. Doch die sollte eine Gesellschaft eigentlich aushalten können, ohne sich wechselseitig unter Generalverdacht zu stellen.


Dieter Rulff, freier Journalist, Jahrgang 1953, studierte Politikwissenschaft in Berlin und arbeitete zunächst in der Heroinberatung in Berlin. Danach wurde er freier Journalist und arbeitete im Hörfunk. Weitere Stationen waren die "taz" und die Ressortleitung Innenpolitik bei der Hamburger "Woche". Vom März 2002 bis Ende 2005 arbeitete Rulff als freier Journalist in Berlin. Er schreibt für überregionale Zeitungen und die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte. Ab 1. Januar 2006 Redakteur der Zeitschrift "Vorgänge".