"Das finde ich völlig unverantwortlich"

Britta Bürger im Gespräch mit Hans-Christian Ströbele · 30.04.2010
Hans-Christian Ströbele hat die Gewerkschaft der Polizei wegen einer Warnung vor Todesopfern bei den befürchteten Ausschreitungen am 1. Mai attackiert. Der Grünen-Politiker erklärte, dass neben "ein paar besoffenen Kids, die Randale toll finden", die Mehrheit der Teilnehmer mit politischen Forderungen auf die Straße gehe.
Britta Bürger: Welches politische Potenzial hat er noch, der 1. Mai? Jenseits der ritualisierten Forderungen des DGB nach guter Arbeit, gerechten Löhnen und einem starken Sozialstaat liegt der Sprengstoff der Proteste weniger in Worten als in selbst gebauten Molotowcocktails. Die Polizeigewerkschaft hat in diesem Jahr erstmals die Sorge geäußert, es könnte Tote geben.

Zusätzlich aufgeheizt ist die Stimmung durch einen Aufmarsch von Neonazis in Berlin, die ihrerseits den Tag der Arbeit gewählt haben, um auf sich aufmerksam zu machen. Am Telefon begrüße ich den Grünen-Bundestagsabgeordneten Hans-Christian Ströbele. Schönen guten Morgen, Herr Ströbele!

Hans-Christian Ströbele: Ja, guten Morgen!

Bürger: Berlins Innensenator fordert eine Repolitisierung des 1. Mai, fehlt es in Ihren Augen auch an politischen Forderungen, stimmen Sie Körting zu?

Ströbele: Na, mehr Politik und mehr Politisierung ist immer richtig, nur gleichzeitig redet der Innensenator, redet die Polizeigewerkschaft und reden auch wir in dem Interview im Wesentlichen darüber, ob es da nun Randale gibt, wie viele und was darauf hindeutet und was alles an Schrecklichem zu erwarten ist.

Und ich nehme auch an, dieses Interview hätte nicht stattgefunden, wenn es darum ging, sich jetzt mit zwei, drei politischen Forderungen dieser Demonstration auseinanderzusetzen und zu beschäftigen. Die Leute gehen ja da auf die Straße auch aus politischen Gründen oder aus politischen Gründen.

Es gibt die Forderung, den Krieg in Afghanistan zu beenden, es gibt die Forderung, die Schere zwischen Arm und Reich nicht immer weiter auseinandergehen zu lassen, es gibt die Forderung, den Leuten die Möglichkeit weiter zu lassen, da im Kiez zu wohnen und sie nicht zu verdrängen aus der Innenstadt. Also es gibt eine ganze Reihe politische Forderungen, über die redet keiner.

Bürger: Aber in Kreuzberg, in Neukölln oder auch im Hamburger Schanzenviertel scheint das Datum 1. Mai doch auch ein Alibi zu sein für einen gewalttätigen Schlagabtausch mit der Polizei, das kann man ja nicht übersehen. Die "Süddeutsche Zeitung" nennt das heute ein Bürgerkriegsspiel, bei dem es nicht mehr um ein politisches Ereignis gehe, sondern um ein seelisches. Also im Grunde wird der Tag der Arbeit doch vor allem missbraucht.

Ströbele: Nein, natürlich, der Tag der Arbeit ist der Tag, an dem die Bevölkerung – das sind ja heutzutage nicht mehr nur die Arbeiterinnen und Arbeiter – auf die Straße gehen, um auf ihre wirtschaftlichen Probleme, auf ihre Sorgen, aber auch auf so Probleme wie Krieg in Afghanistan hinzuweisen und Forderungen zu stellen.

Und die Leute, die hier in Berlin auf die Straße gehen, da haben viele auch sehr schlechte Erfahrungen etwa mit der Polizei, Gewalterfahrungen, und das tragen die auf die Straße. Es ist doch nicht so, dass die 10.000, die da zur revolutionären Mai-Demonstration kommen, die ab abends dann stattfindet, dass die nun alle losrennen und irgendwie Polizisten umbringen wollen oder Randale machen wollen. Wenn Sie das sehen – und ich bin da wirklich jedes Jahr dabei, ich umradel das immer und versuche an den Brennpunkten zu sein –, dann läuft auch das ganz überwiegend mit Parolen und mit politischen Inhalten. Und dann gibt es leider, leider immer wieder, vor allen Dingen am Ende häufig nach der Demonstration dann diese Gewaltereignisse, und in den Zeitungen und in den Medien wird nur darüber berichtet.

Bürger: Würden Sie denn soweit gehen und sagen, es ist ein Fehler, auch Steinewerfern zu unterstellen, sie seien unpolitisch?

Ströbele: Ja, natürlich, natürlich. Es gibt, also es gibt die einen und es gibt die anderen. Natürlich gibt es auch besoffene Kids, die sich dann da irgendwie einreihen und die Randale toll finden und dann da mitmachen und hin und her und gegen die Polizei, die sie schon gar nicht mögen und so, das gibt es. Aber die ganz große überwiegende Mehrzahl der Leute, die da hingeht, natürlich haben die politische Forderungen, und zwar die nehmen sie sehr ernst und widmen den zum Teil ihr Leben und nicht dem Steine werfen, sondern dem politischen Engagement.

Bürger: Mit welchen Protestformen sollte die Repolitisierung des 1. Mai also gefüllt werden, wenn Sie sagen, die Inhalte sind vorhanden?

Ströbele: Man muss versuchen, den Anlass und die Inhalte auch in die öffentliche Diskussion zu bringen. Das ist ja eigentlich der Sinn dessen, dass man dafür auf die Straße geht, dass man ein Medium nutzt – auf die Straße gehen, ist ja auch ein Medium nutzen, nämlich die direkte Ansprache der Bevölkerung, auch der Medien, damit das in die normalen Medien reinkommt –, um politische Forderungen, Tagesforderungen, aber auch längerfristige Forderungen unter die Leute zu bringen.

Das ist ja vom Grundgesetz vorgesehen und eigentlich das Urmedium, um überhaupt für politische Veränderungen sich einsetzen zu können. Da kann man nicht genug tun, und da muss man auch mehr tun, dass diese politischen Inhalte, die es gibt, dass die, über die berichtet wird und dass die an der Spitze stehen und dass man nicht nur darüber redet, ob jetzt ein paar Hundert Leute, die da sich auch beteiligen, ob die aufgrund des Übergenusses von Alkohol oder auch aus anderen Gründen jetzt da Randale machen.

Bürger: Gut, also ohne Alkohol und ziemlich nüchtern sind aber auch Aufrufe überschrieben zum Beispiel mit dem Slogan "Berlin is burning", Berlin brennt also, hohe Miete und Verdrängung setzen die Stadt in Brand. Daraus spricht doch auch so was wie Lust am Abfackeln, oder nicht?

Ströbele: Nein, das ist ein – ich sag es jetzt mal in Anführungsstrichen – "Spielen" mit solchen Worten, um vorzukommen in der öffentlichen Diskussion. Aber Sie sehen doch selbst aus diesen Forderungen, da ist doch ein politischer Inhalt drin.

Wenn man jetzt sagen würde, wir sind gegen höhere Mieten und wir möchten gerne weiter in unserem Kiez wohnen, dann käme das nicht an. Wenn man das aber so verpackt, wie Sie es jetzt vorgelesen haben, dann meint man – ich bin da ja auch, stehe ja nicht hinter diesen Parolen –, aber dann meint man, dann klingt da an, sonst brennt Berlin.

Was da gemeint ist, ist, dass das politische Problem auf den Nägeln brennt. Aber man drückt das halt so aus, und genauso sind diese Bilder, die jetzt im Fernsehen ständig gezeigt werden. Da versucht man, indem man das aufnimmt, diese Diskussion über Gewalt und Angst und Schrecken zu verbreiten, versucht man, in die Wahrnehmung reinzukommen.

Weil es ist leider so, so war das schon in APOs Zeiten, so war das in all den Jahrzehnten dazwischen, dass über 10.000 Leute, die auf der Straße sind und eine politische Forderung artikulieren, in einem Fünfzeiler berichtet wird, aber wenn ein brennendes Auto dabei ist, dann kommen sie auf die Titelseiten und in die Tagesschau.

Bürger: Vor den Demonstrationen am morgigen 1. Mai sind wir hier im Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem Bundestagsabgeordneten der Grünen, Hans-Christian Ströbele. Sie werden ja gerne als Kreuzberger Urgestein tituliert, in welcher Weise werden Sie denn morgen selbst dabei sein?

Ströbele: Ach, das wird ein langer Tag, und Sie haben das ja angesprochen, in Berlin findet in der Tat eine ganz erhebliche zusätzliche Aufregung deshalb statt, weil die Nazis eine bundesweite Demonstration angekündigt haben. Wir wissen noch gar nicht genau, wo die stattfindet, wahrscheinlich eher am Prenzlauer Berg, aber da waren auch Strecken vorgesehen, etwa Friedrichshain oder Ähnliches, und das will man in Berlin nun wirklich nicht. Und deshalb habe ich auch dazu aufgerufen, gegen diese Demonstration der Nazis auf die Straße zu gehen und denen die Straße streitig zu machen, notfalls dadurch, dass man die Straße besetzt.

Bürger: Bei solchen Block ...

Ströbele: Das werden hoffentlich 10.000 Leute machen, so wie wir das in Dresden gemacht haben am 13. Februar, dass die sich da nicht bewegen können.

Bürger: Angenommen, es kommt zu so einer Straßenblockade morgen, werden Sie sich von der Polizei wegtragen lassen?

Ströbele: Also was da im Einzelnen passiert und was ich mache, das hängt von der jeweiligen Situation ab, aber die Polizei hat ja auch in Dresden so reagiert, dass sie gesagt hat, wenn eine sichere Demonstration durch einen bestimmten Bereich nicht garantiert werden kann, weil eine direkte Konfrontation sonst droht, dann findet diese Nazidemonstration allenfalls so statt, dass das auf einen Platz sich reduziert und konzentriert. Also, dass die Leute dafür auf die Straße gehen, das ist vormittags oder mittags, da werde ich dabei sein, da werde ich mir das auch angucken.

Ich sehe auch meine Funktion da immer darin, möglichst bei Deeskalationen zu helfen, also in Situationen auch da zu sein, wo man vielleicht durch ein Gespräch, durch Aufmerksammachen auf bestimmte Entwicklungen helfen kann. Und dann werde ich mittags, ab mittags auf einem großen Maifest sein, das von Grünen und Linken veranstaltet wird.

Und dann gibt es ja das Riesen-Myfest – mit y – in Kreuzberg, das wird bis abends oder bis spät in die Nacht gehen, mit 15 Bands an allen Ecken und Enden, da werden 40-, 50.000 Menschen erwartet. Und ich werde auch abends zu der revolutionären Maidemonstration gehen, um mir das anzusehen.

Bürger: Die Polizeigewerkschaft hat die Befürchtung geäußert, es könnte Tote geben in diesem Jahr. Das sind starke Worte. Sind solche Formulierungen auch eine Art Abschreckungsmanöver?

Ströbele: Das finde ich völlig unverantwortlich. Und wenn man immer wieder das sagt, dann hat man ja fast den Eindruck, das soll eine Drohung sein. Also ich habe da überhaupt kein Verständnis für solche Äußerungen. Es kommt dann dazu, dass man da was herbeiredet.

Also um Himmels willen, die Leute sollen nicht dauernd schüren, sondern sie sollen möglichst dafür sorgen, dass viele dahin kommen, viele hinkommen, denen die politischen Anliegen das Wichtige ist. Und umso mehr von denen kommen, umso weniger haben dann wenige Dutzende oder Hunderte, die dann vielleicht Krawall machen, so eine Chance das zu tun.

Bürger: Für eine Repolitisierung des 1. Mai tritt der grüne Bundestagsabgeordnete Hans-Christian Ströbele ein. Herr Ströbele, danke fürs Gespräch!

Ströbele: Ja, okay, tschüss!

Bürger: Tschüss!