"Das Entscheidende ist das Kerngeschäft Unterricht"

Roland Wöller im Gespräch mit Ulrike Timm |
Die Bildungsqualität werde nicht primär von der Schulstruktur beeinflusst, sondern von der Qualifikation der Lehrer, ihrer Motivation und verlässlichen Rahmenbedingungen, sagt Roland Wöller, Kultusminister in Sachsen (CDU). Die sächsischen Gymnasiasten gingen aus dem jüngsten PISA-Test als Sieger hervor.
Ulrike Timm: Alles gut in Sachsen? Die Gymnasiasten sind PISA-Sieger, waren beim letzten Test erfolgreicher als die Bayern, die da schon glaubten, ein Abo drauf zu haben, und Sachsen hat weder ein dreigliedriges Schulsystem noch reguläre Gesamtschulen, sondern eine geeinte Mittelschule, an der man seinen Haupt- und Realschulabschluss machen kann, und ein Gymnasium, das nach der vierten Klasse beginnt und sehr offen auf Leistung setzt. Roland Wöller ist Kultusminister in Dresden und gehört der CDU an. Schönen guten Tag!

Roland Wöller: Schönen guten Tag, Frau Timm!

Timm: Herr Wöller, können Sie in drei Sätzen sagen, wie man die Bayern als gymnasialen Primus schlägt?

Wöller: Ich glaube, es hat drei Ursachen. Erstens Mal haben wir eine hoch motivierte Lehrerschaft, die besondere Qualitäten in der Fachdidaktik hat, also in der Frage, wie gehe ich mit Schülern um. Zweitens ein klares Schulsystem mit zwei weiterführenden Schularten, der Mittelschule und dem Gymnasium. Und drittens haben wir eine Verlässlichkeit, wir haben einen 20-jährigen Weg eingeschlagen, den sächsischen Weg, ohne große Reformen. Und damit haben wir Ruhe, um Qualität zu entwickeln.

Timm: Damit machen wir jetzt mal einen Strich unter das Lob. So stolz Sie nämlich auf Ihre PISA-Sieger sein können, stört es Sie nicht, dass sächsische Gymnasien vergleichsweise weniger Abiturienten entlassen als andere Bundesländer?

Wöller: Das stimmt so nicht. Wir haben eine Gymnasialquote von 33 Prozent, die wir gerade in den letzten Jahren noch steigern können. Damit liegen wir in etwa genauso hoch wie Bremen, aber sind natürlich in der Schulqualität deutlich besser. Ich räume ein, das ist noch steigerungsfähig, das wollen wir auch, das brauchen wir, wir müssen mehr junge Menschen zum Studium führen, aber natürlich ohne Abstriche an der Qualität.

Timm: Heißt das, Sachsen ist die Trutzburg des klassischen Gymnasiums oder auch ein bisschen die Trotzburg?

Wöller: Weder noch. Ich denke mal, das Gymnasium ist ja schon mehrfach totgesagt worden, aber Totgesagte leben länger. Es ist eine hochqualitative Schulform, die sich großer Beliebtheit bei Schülern und bei Eltern erfreut, das wird auch so bleiben. Wir müssen die Qualität weiterentwickeln, wir müssen uns auf neue und veränderte Rahmenbedingungen einstellen. Genau das tun wir, aber innerhalb verlässlicher Rahmenbedingungen.

Timm: Das würde wirklich jeder Kultusminister jedes Bundeslandes sagen, Herr Wöller, aber ob man das nun gut findet oder nicht, heute braucht man ja schon für die meisten beruflichen Ausbildungen das Abitur. Da kann man nicht mit Realschulabschluss punkten, von Hauptschule gar nicht erst zu reden, das ist einfach die gesellschaftliche Realität. Muss die Schule sich da nicht drauf einstellen?

Wöller: Natürlich muss sie sich drauf einstellen. Die Frage der Berufsorientierung nimmt einen zunehmend hohen Stellenwert ein. Die Frage, welchen Beruf ergreife ich, darf nicht erst dann gestellt werden, wenn man das Zeugnis in der Hand hat, sondern muss weit früher einsetzen – im Übrigen nicht nur bei uns in der Mittelschule, sondern auch am Gymnasium. Das tun wir. Ich möchte aber widersprechen, dass man nur mit einem Abitur, also einer allgemeinen Hochschulreife Erfolge haben kann. Sie sehen das ja, wir haben eine demografische Entwicklung, gerade im Osten Deutschlands und in Sachsen, wir haben eine halbierte Schülergeneration, es werden immer weniger, und bereits jetzt ist Fachkräftemangel spürbar. Und es wird viele geben, die mit einem soliden Realschulabschluss dann auch hervorragende Möglichkeiten haben, eine Berufsausbildung, eine Karriere in der Wirtschaft zu starten.

Timm: Ihr Optimismus in Ehren, aber viele ihrer sächsischen Realschulabsolventen werden außerhalb Sachsens Arbeit suchen, Ausbildung suchen, einfach wegen des demografischen Faktors und auch wegen der Abwanderung, die ja immer noch anhält. Die kommen dann mit einem Realschulabschluss in andere Bundesländer oder nach Westdeutschland und hören dann – das ist ja auch eine Erfahrung: Wieso hast du kein Abitur?

Wöller: Sicherlich wird es nicht jeden geben, der Abitur machen kann, aber die Absolventen der Mittelschule, die den Realschulabschluss machen, haben hervorragende Möglichkeiten. Es war in der Vergangenheit so gewesen, dass wir eine Lehrstellenlücke hatten, also wir hatten weniger Lehrstellen zur Verfügung als Bewerber, das dreht sich jetzt gerade um. Übrigens im Osten mit einem Vorlauf von drei, vier Jahren, dann wird es in Baden-Württemberg und Bayern genauso aussehen. Bereits jetzt braucht die Wirtschaft dringend Realschulabsolventen, die können wir jetzt bieten. Und dieses Jahr war so gewesen, dass wir genauso viele Lehrstellen hatten, wie es Bewerber gab. Und es wird sich jetzt zugunsten der Absolventen umdrehen. Das heißt, es werden junge Leute auch Arbeit in Sachsen finden, nicht nur in Sachsen, sondern auch darüber hinaus.

Timm: Ich wünsche Ihnen, dass der Optimismus dann auch wirklich in Früchte übergeht. In Sachsen wollen Sie bis 2014 neun Gemeinschaftsschulen, die es dann doch gibt, auslaufen lassen, unter ziemlich viel Protest – zum einen vom Koalitionspartner FDP, aber eben auch unter Protest von Eltern, Schülern und Lehrern. Ihr CDU-Kollege Ole von Beust in Hamburg dagegen wirbt gerade für gemeinsames Lernen bis Klasse sechs, das will man im schwarz-grünen Hamburg jetzt fördern. Es gibt eine große Zerrissenheit bei Schulpolitik, auch durch die Farben. Was sagt uns das?

Wöller: Also wir wissen, dass die Schulstruktur sicherlich einen Einfluss auf die Bildungsqualität hat, aber einen wesentlich geringeren, als man bisher immer geglaubt hat. Ich glaube, das Entscheidende ist das Kerngeschäft Unterricht. Es kommt auf die Lehrer an, es kommt auf die Fachdidaktik an, es kommt auf das Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern an und weniger auf die Schulstruktur. Und deswegen brauchen wir eine Verlässlichkeit. Es gibt keine Studie, die beweist, dass längeres gemeinsames Lernen für die Schwachen förderlich ist und für die Guten besser ist. Wir haben in Sachsen die Erfahrung gemacht, dass wir Leistungsfähigkeit haben in unserer Grundschule und dem Gymnasium und der Mittelschule, und das wollen wir ausbauen, und die Zahlen sprechen für sich. Diejenigen Länder, die Gemeinschaftsschulen haben in Deutschland, sind nicht PISA-Sieger, diejenigen, die sie nicht haben, und dazu gehört Sachsen, schneiden deutlich besser ab.

Timm: Aber wenn Roland Wöller auch sagt, letztlich kommt es nicht auf die Struktur an, sondern auf andere Faktoren, auf die Lehrer, auf die Motivation, dann können Sie genauso gut Ihre hoch motivierten Gemeinschaftsschulen bestehen lassen und schlicht darauf setzen, dass es verschiedene Wege gibt zum Ziel. Dann müssen Sie die ja nicht auslaufen lassen.

Wöller: Es gibt bereits jetzt verschiedene Wege zum Ziel. Wir haben ja nicht nur zwei Wege zu unserem Abitur, sondern auch mehrere Geschwindigkeiten zum Abitur. Sie können in Sachsen das Abitur in dem Allgemeingymnasium machen innerhalb von zwölf Jahren. Sie können aber auch den Weg über die Mittelschule wählen, mit zehn Jahren bis zum Realschulabschluss und dann noch mal drei Jahre am beruflichen Gymnasium. Übrigens ein Weg, der zunehmend attraktiv wird für junge Menschen. Es werden mehr und mehr, die diesen Weg einschlagen. Und die Spätzügler, das sind meistens auch Jungen, die mehr Entwicklungszeit brauchen, haben dann die Möglichkeit, eine allgemeine Hochschulreife zu erwerben. Noch mal: Also wir haben einen Schulversuch, der läuft auch weiter, Gemeinschaftsschule und Schulen mit besonderen pädagogischen Entwicklungsaufgaben. Wir wollen innerhalb dieses Schulversuchs neue pädagogische Ansätze und organisatorische Formen erproben, die wir für alle Schulen dann übertragen können.

Timm: Zur Ehrlichkeit dazu gehört aber auch, dass viermal so viel Gymnasiasten von sächsischen Gymnasien wieder runtergestuft werden auf die Mittelschule, als dann wirklich von der Mittelschule in irgendeiner Weise noch auf einem der von Ihnen beschriebenen Wege das Abitur erreichen. Das gehört auch dazu.

Wöller: Also im Ergebnis machen mehr Schüler Abitur als vor zwei, drei Jahren, mit steigender Tendenz, allerdings sind die Wege unterschiedlich. Wir haben ein durchlässiges, wir haben ein anschlussfähiges Schulsystem, was schülergerecht ist, was noch durchlässiger werden wollen, weil wir Weichen einbauen, dass man später von der Mittelschule aufs Gymnasium wechseln kann, also nicht nur von der Vier in der Grundschule, sondern da auch in der Sechs von der Mittelschule. Das werden wir weiter ausbauen. Und entscheidend ist doch, vom Menschen aus zu denken, vom Kind aus zu denken, ihm die Entwicklungsmöglichkeiten zu geben und auch die Zeit zu geben, die es braucht, um zum Abschluss zu kommen. Und ich denke mal, da sind Strukturen wichtig, aber nicht alles.

Timm: Dass das sächsische Schulsystem Erfolge hat, das bestreitet ja niemand ernsthaft. Einige sagen aber auch mit gutem Grund: So schwer haben Sie es nicht, mit null Komma irgendwas Prozent Migrantenanteil. Hamburg auf der Veddel oder Berlin-Neukölln, das sind schlicht ganz andere Baustellen, und vielleicht passt dieses ausdifferenzierte Mittelschulsystem plus Grundschule nach der vierten Klasse vielleicht passt das wirklich nur auf Sachsen – Gymnasium nach der vierten Klasse, entschuldigen Sie –, vielleicht passt das wirklich nur auf Sachsen?

Wöller: Die Frage kann ich nicht beantworten. Ich glaube, wichtig ist, dass jedes einzelne Bundesland seinen eigenen Weg findet. Die Bedingungen sind jeweils anders, aber entscheidend ist, dass wir uns auch in der Kultusministerkonferenz auf die Qualität verständigt haben, auf Standards, gerade auch im Bereich des Abiturs, und die Wege werden unterschiedlich bleiben. Dieser Wettbewerb ist wichtig, und zwar deswegen wichtig, weil er Qualität fördert und Qualität nützt letztendlich auch den Schülern.

Timm: Aber bei Schulpolitik gilt natürlich in Deutschland immer noch, jeder macht seins. Bayern verteidigt die Dreigliedrigkeit, Hamburg wagt einen Schritt Richtung gemeinschaftliches Lernen, Schleswig-Holstein schafft ihn gerade wieder ab, wenn ich richtig informiert bin, und Berlin propagiert gemeinsames Lernen und verlost zugleich Plätze an den begehrtesten Gymnasien der Stadt. Das ist ein ziemliches Chaos. Wissen denn die Bildungsplaner – so heißt das ganz offiziell – wissen die Bildungsplaner an ihren Schreibtischen eigentlich immer noch, dass sie über Kinder reden?

Wöller: Das hoffe ich, jedenfalls tun sie das in Sachsen. Sie haben völlig recht mit der Feststellung, dass wir in sehr kurzer Zeitfolge Reformen haben, ein Hin und Zurück auch in der Bildungspolitik, aber diese Feststellung ist nicht zutreffend für Sachsen. Wir haben in Sachsen Anfang der 90er-Jahre auch Berater gehabt aus Nordrhein-Westfalen, aus Bayern und aus Baden-Württemberg. Die einen haben gesagt, in der Gemeinschaftsschule liegt der Stein der Weisen, die anderen haben gesagt, wir brauchen ein dreigliedriges Bildungssystem. Gott sei Dank hat man sich damals entschieden, einen eigenen Weg zu gehen, einen sächsischen Weg zu gehen, nämlich zwölf Jahre bis zum Abitur mit einem klaren zweigliedrigen Schulsystem. Das waren entscheidende Rahmenbedingungen, die sich so auch nicht verändert haben. Das hat die Planungssicherheit und die Verlässlichkeit geboten. Ich kenne viele Lehrer, weil ich oft in Schulen bin, die sagen, wir sind nicht mit allem einverstanden, was Sie machen, aber wir wissen, woran sie sind. Und diese Verlässlichkeit ist, glaube ich, wichtig, um die Unterrichtsqualität zu entwickeln, die Ruhe und die Verlässlichkeit zu haben. Und daran werden wir festhalten, denn Sie haben das Beispiel Hamburg genannt, dort hat man wieder eine Reform gemacht. Ich habe nicht den Eindruck, dass beim Volksantrag viele Eltern damit zufrieden sind, und wir werden sehen, wie die Geschichte ausgeht.

Timm: Der Stein der Weisen wird immer noch gesucht. Roland Wöller war das, Kultusminister von Sachsen. Er gehört der CDU an. Herzlichen Dank fürs Gespräch hier im "Radiofeuilleton"!

Wöller: Sehr gerne!