Das Ende des Ich-Jahrzehnts

Von Wolfram Eilenberger |
Was war der Trendbuchstabe des ausgehenden Jahrzehnts? Kein Zweifel, es war das "I”. Schmal. Schlank. Smart. Auf den ersten Blick mit einer Eins zu verwechseln, stand es stramm für Fortschrittsglauben und Geradlinigkeit.
Das "I” gab die Richtung vor, immer aufwärts sollte es gehen. Nicht zuletzt ist es im Englischen ("I”) mit der wunderbaren Eigenschaft versehen, "Ich” zu bedeuten und damit wie geschaffen für ein Jahrzehnt im Ego-Tunnel der Ownership-Society und Ich-AG. Denn eine Gesellschaft, die gab es ja zu Anfang des Jahrtausends nicht mehr, nur noch windschnittige Ichs mit schnurgeraden Lebensläufen und dem freudigen Auftrag, sich leistungsstark das Tüpfelchen auf die eigene Existenz zu setzen.

So stand er also da, der immer flexible I-Mensch des neuen Jahrtausends - im Idealfall einsam und dürr wie ein Magermodel. Ein bisschen flach vielleicht, aber flach war ja auch angesagt. Sogar der kugelrunde Erdball wurde von führenden Denkern für flach erklärt, glatt gebügelt vom Internet, wovon vor allem die neuen Trendstaaten profitieren sollten: Indien, China, Brasilien. Ohne "I” ging plötzlich gar nichts mehr, Klinsi sei’s geklagt. Gekrönt wurde das "I” freilich durch eine Produktreihe, die wie keine andere das Lebensgefühl des neuen Jahrtausends traf: Imac, Ipod, Iphone. Ein Buchstabe wurde zur Weltanschauung.

Doch dann kam die Kriiiiise, und so sollten wir uns spätestens jetzt fragen, welcher Buchstabe wohl in Zukunft den Platz des ichsüchtigen "I’s” einnehmen wird. Noch vor wenigen Monaten schien alles für das "O”- wie Obama zu sprechen, aber mal abgesehen von unvermeidlichen Abnutzungserscheinungen, das passt einfach nicht mit dem "O”: viel zu rund, zu geschlossen und harmonisch für eine Zeit voller neuer Zweifel und Ängste. Aus deutscher Sicht läge gewiss ein gründlich verunsichertes "Ä”, "Ö” oder "Ü” nahe, doch mit Umlauten lässt sich ja international nichts reißen, vielmehr sehen diese Eigengewächse in den kommenden Jahren dem sicheren Tatstaturtod entgegen.
So spricht global wohl alles für das "Y”, welches das "I” zu einer multipolaren Gabel öffnet; das "Y”, offen wie eine Frage. So ein "Y” lässt sich nicht einfach flach legen oder verbiegen, nein, es hat Kanten und Charakter, bietet Widerstand und Reibungsflächen, und auch das englische Ypsilon steht als Laut für ein ganzes Wort, "why” wird es gesprochen, "Y” wie der tiefste aller menschlichen Impulse: Warum? Das Ypsilon ist der Patron aller Suchenden, als vorletzter Buchstabe des Alphabets wahres Sinnbild einer drohenden Endzeit: Kehret um, vor allem ökologisch! Doch bei all dem bewahrt das "Y” sein utopisches Potential und stellt uns nachhaltige Eintracht mit dem Kosmos in Aussicht, ich sage nur: Ying und Yang!

Die Krise, nicht wahr, ist ja immer ein Zeichen zur Einkehr, Nachdenklichkeit, ja Selbstfindung: Vom "I” zum "Why” also, vom "Ich” zum "Warum”. Vielleicht ist ja doch noch nicht alles verloren.


Wolfram Eilenberger, geboren 1972, ist Philosoph und Cicero-Korrespondent sowie Autor zahlreicher Bücher, zuletzt "Lob des Tores" (2006) und "Wie Wittgenstein das Rechnen verlernte" (2004). Er lehrt derzeit an der Indiana University, Bloomington. Sein jüngstes Buch: "Kleine Menschen, große Fragen"/ Berlin Verlag.
Wolfram Eilenberger
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