Das Ende der Stille

17.10.2006
Hallgrímur Helgasons Protagonist "Böddi" wird nicht müde, gegen die geistige und emotionale Verwahrlosung des modernen Isländers anzuschreiben. Doch anstatt die Stille und Langsamkeit Islands vor dem geistigen Auge des Lesers wiederherzustellen, erzeugt Helgason vor allem Langeweile.
Eins ist sicher: in den Texten isländischer Autoren wird gern und gut gerechnet. So erfährt man in Kristof Magnussons Roman "Zuhause", dass eine Frau im Alter von 25 bis 35 Jahren auf Island zwischen 1,5 männlichen Angeboten wählen kann. Bei einer Ausgangsziffer von 140.000 eine beträchtliche Abschreibung, die ein düsteres Licht auf Islands Zukunft wirft.

Auch Hallgrímur Helgason versucht die Zukunftssorgen um sein nördliches Geburtsland mit Rechentricks in den Griff zu bekommen. Demnach leben im isländischen Krókur, dem Heimatort seines Protagonisten, genau 2741 Idioten und da in Europa 2741 weitere Orte mit gleich vielen Einwohnern existieren, ergibt das eine Zahl von 7513081.

1959 geboren, gehört Helgason zur Garde jener Kultautoren, die es über die Landesgrenzen hinaus geschafft haben, eine steile Karriere zu machen. Spätestens seit seinem Roman "101 Reykjavik", der auch erfolgreich verfilmt wurde, geht jedem an Literatur Interessierten der klangvolle Name leicht über die Lippen.

Mit "Rokland" ist der dritte Roman des Autors nun ins Deutsche übersetzt worden. In ihm wird von einem Island erzählt, dem die einstige Stille durch das ohrenbetäubende Gedudel und Geplapper endloser Pop-, Piep- und Talkshows abhanden gekommen ist. Die Berühmtheiten des Tages sind "Labertaschen, Popsternchen und Filmdiven", denen visuell kaum auszuweichen ist, da in jedem Kiosk, jeder Tankstelle, jedem Supermarkt die stets laufende Glotze rundum für Verblödung sorgt. Mit beißender Schärfe wird diese Analyse des isländischen Alltags vom Protagonisten des Romans Böðvar Halldór Steingrímsson, der Einfachheit halber Böddi genannt, geliefert. Die Hasstiraden verbreitet der vom Dienst suspendierte Lehrer auf seiner Homepage. Denn für Böddi, der in Berlin Nietzsche und Goethe studierte und für den Hölderlins Gedichte zum Schönsten gehören, was eine Sprache jemals hervorgebracht hat, gleicht die Gesellschaft einer "beschissenen Airline", die mit einem Wahnsinnstempo in die falsche Richtung fliegt. Dass er durch eine Menge unsichtbarer Gurte an dieses System gefesselt ist, er gezwungen wird, mitzumachen, lässt ihn zum arroganten Verächter jeglichen Fortschritts und schließlich zum Kriminellen werden.

Zudem steht in der geistigen und emotionalen Verwahrlosung des modernen Isländers, die des männlichen Geschlechts an erster Stelle. Böddi erklärt das an sich selbst durch sein "Unbeweibtsein". Und da seine Bemühungen um das andere Geschlecht alle gescheitert sind, ist es ihm nur noch möglich, "warm an Nietzsche und kalt von den Frauen" zu denken. Sein anarchistisches Credo lautet: "Sex ist Hitler. Es fängt immer mit einem Überfall an und endet in einem düsteren Bunker."

Hallgrímur Helgasons Idee, vom seelischen und geistigen Erkalten in einer künstlich aufgeheizten Welt zu erzählen, ist ehrenwert, doch keineswegs originell. Und während Böddi wie einst Don Quixote versucht, mit isländischen Pferdestärken auf Islands Autobahn einen Gefühlsstau zu erzeugen, stellt sich nicht Langsamkeit her, sondern bald Langeweile.

Rezensiert von Carola Wiemers

Hallgrímur Helgason: Rokland
Aus dem Isländischen von Karl-Ludwig Wetzig
Klett-Cotta 2006
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel "Rokland" im Verlag Edda Publishing 2005
479 Seiten. 24,50 Euro