Das Ende der Gemütlichkeit

Von Uwe Bork · 18.03.2006
Den meisten Menschen von durchschnittlicher Halbbildung, zu denen zu gehören seit PISA ja eher eine Auszeichnung als einen Makel darstellt, den meisten Menschen wie Sie und ich also dürfte er schlicht als derjenige im Gedächtnis geblieben sein, der seinen Geschlechtsgenossen empfahl, bei Besuchen von Damen gewisse Mittel zu deren körperlicher Züchtigung nicht daheim zu lassen, vulgo: die Peitsche nicht zu vergessen.
Und dennoch: Friedrich Nietzsche, der Mann der Zarathustra zu uns sprechen ließ, war alles andere als ein Brachialphilosoph des Übermenschen. Der schließlich dem Wahnsinn verfallene Denker zeigte sich persönlich eher als ein scheuer und schüchterner Sensibilissimus, dem feinfühlige Beobachtungen durchaus nicht fremd waren.

Aus Turin etwa, in diesen Wochen hauptsächlich als winterliche Medaillen-Metropole in den Medien, schrieb er 1888 an einen Freund:

"Dies ist eine Stadt nach meinem Herzen! ... Nein, was für ernste und feierliche Plätze! Die Straßen sauber und ernst – und alles viel würdiger, als ich es erwartet hatte!"

Selbst für die piemonteser Gastronomie fand Nietzsche nur Lob. Hier gibt es, so notierte er, "die schönsten Cafés, die ich je gesehen habe." Für Turin mit seinen prunkvollen Kaffeebars an weiten Bogengängen, seinen blattgoldverzierten Anbetungsstätten von Espresso und Cappuccino, mag diese Beobachtung noch immer gelten. In den Innenstädten und urbanen Randzonen Deutschlands scheint dagegen seit einiger Zeit jegliche Esskultur auf dem Rückzug zu sein. Hier greift die Beschleunigung unseres Lebens mehr und mehr um sich. Zeit ist Geld, wie schon jeder Akkordarbeiter weiß, und beides ist knapp geworden.

Setzte man sich früher zum Essen gemeinhin noch an einen mehr oder minder gut gedeckten Tisch, so isst der moderne Großstadtmensch seinen Hamburger, seinen Döner oder seine Pizzaschnitte im Stehen. Oder besser noch: im Gehen. Der amerikanisierte 'Coffee to go', den inzwischen selbst bodenständige Bäcker gegen einen vergleichsweise geringen Obolus über den Ladentisch schieben, gibt dem Begriff 'Fastfood' eine völlig neue Bedeutung, kann er doch dank seines dichten Deckels über dem Pappbecher selbst Joggern zum Aufputschen ihrer Energiereserven dienen.

"Wenn der kleine Hunger kommt", machen wir längst keine Pause mehr. Unsere Städte sind vielmehr zu Kantinen geworden, zu seelenlosen Verteilstationen für den schnellen 'Snack zwischendurch', den wir neben den Blumenkübeln und den Bonsaibäumchen unserer Fußgängerzonen eilig in uns hinein schieben.

"Für die Füße wie für die Augen ein klassischer Ort!"

Das kritzelte noch Nietzsche über sein geliebtes Turin in sein Notizbuch. Auf den Straßen und Plätzen unserer Städte würden seine Füße heute durch einen fast flächendeckenden Bodensatz von Einwegbehältern aus isolierendem Kunststoffschaum waten müssen, und seine Augen müssten selbst an Tagen ohne Streik der Müllmänner über Abfallberge schweifen, die alles andere als klassisch zu nennen sind.

Der Unkultur des schnellen Essens hat sich eine ebensolche des schnellen Wegwerfens zugesellt. Der Geringschätzung des Essens, dem man nicht einmal mehr eine kurze Pause des Genießens zubilligen möchte, entspricht eine Missachtung der Essgefäße, die man nach Gebrauch einfach an der nächstbesten Ecke fallen lässt. Der Euphemismus für diese Art von gesellschaftlicher wie ökologischer Verantwortungslosigkeit – ich 'entsorge' meinen Müll – dürfte wohl schwer zu übertreffen sein!

Hat uns die 'Unwirtlichkeit unserer Städte', die Alexander Mitscherlich schon vor mehr als drei Jahrzehnten konstatierte, nun vollends erreicht? Sind wir dabei, die permanente Eile zu unserer Kardinaltugend zu erheben? Machen wir uns gar daran, in mehr als nur einer Beziehung einen Gipfel der Geschmacklosigkeit zu erklimmen?

Nun, warten wir erst einmal ab, was uns noch bevorsteht. Und schlagen wir uns dann selbst an die Brust, und zwar - bitte schön - auch diejenigen, die sich dabei nicht an ihrem faden Coffee to go verschlucken, sondern denen ihre etwas dickeren Spesenkonten immer noch ein Geschäftsessen beim Sternekoch erlauben. Sie sind es ja unter anderem, die mit ihrem Wunsch nach mehr Tempo, ihrem Verlangen nach einer Flexibilisierung der Arbeitszeit, nach – natürlich freiwilliger – Mehrarbeit und einem ebenso freiwilligen Lohnverzicht das Ende einer Gemütlichkeit eingeläutet haben, wie sie vielleicht auch nur in der beschönigenden Rückschau existiert hat.

Nietzsche hat sogar dafür ein Wort gefunden. In seinen Aphorismen schreibt er:

"Wer von seinem Tag nicht zwei Drittel für sich hat, ist ein Sklave."

Wenn das so ist, sollten wir vielleicht wenigstens einmal mit unseren Ketten klirren. Wenigstens.


Uwe Bork, Journalist, geboren 1951 im niedersächsischen Verden (Aller), studierte an der Universität Göttingen Sozialwissenschaften. Nach dem Studium arbeitete Bork zunächst als freier Journalist für verschiedene Zeitungen, Zeitschriften und ARD-Anstalten. Seit 1998 leitet er die Fernsehredaktion 'Religion, Kirche und Gesellschaft' des Südwestrundfunks in Stuttgart. Für seine Arbeiten wurde er unter anderem mit dem Caritas-Journalistenpreis sowie zweimal mit dem Deutschen Journalistenpreis Entwicklungspolitik ausgezeichnet. Bork ist Autor zahlreicher Glossen und mehrerer Bücher, in denen er sich humorvoll-ironisch mit zwischenmenschlichen Problemen auseinandersetzt.