Das Ende der Farbenblindheit

Der südafrikanische Schriftsteller Troy Blacklaws erzählt in seinem Debütroman "Malindi" nicht nur die tragische Geschichte einer Familie, die nach dem Tod eines ihrer Zwillinge auseinanderfällt. Der Umzug von Kapstadt ins Hinterland bedeutet für den 14-jährigen Douglas auch das Ende einer Zeit der Liberalität und relativen Gleichberechtigung der Rassen.
Schlimmer kann es gar nicht mehr kommen: Der 14-jährige Douglas verliert seinen Zwillingsbruder durch einen Sportunfall. Schmerz und Schuldgefühle entfernen die Eltern voneinander, zumal der Vater den Ball mit dem tödlichen Drall geworfen hat. Für den alleingelassen Jungen "treibt die Erde mit losgerissenem Anker durch den Raum".

Er hat mehr als nur seinen Bruder verloren: einen selbstverständlichen Teil seiner selbst. Er sieht das Gesicht des anderen, das sein eigenes ist, im Spiegel, fühlt sich gleichermaßen verlassen und verfolgt. Er fürchtet sich vor der immer wieder auftauchenden Erinnerung an die vertrauten Gesten des innigen Miteinanders, will in der Schule nicht angestarrt werden als der "untote Zwilling".

Doch trotz Trauer, Verlustgefühlen und Einsamkeit zieht ihn das erste Interesse an Mädchen ins Leben. Wie Licht und Schatten gleiten die verschiedenen Stimmungen über Douglas. Der Roman spielt Mitte der 70er-Jahre, also noch im alten Südafrika der Apartheid, aber die Zeit im liberalen, "ganz unafrikanischen" Kapstadt läuft ab. Für Douglas kommt es tatsächlich noch schlimmer.

Sein Vater verschwindet, seine Mutter gibt ihren Beruf als Lehrerin auf und zieht mit dem 14-Jährigen weit weg ins Hinterland, in eine "Landschaft aus Steinen, Staub und Dornen". Dort im wüstenartigen Karoo gilt die willkürliche, bösartige Macht des Stärkeren. In der neuen Schule gehören Erniedrigungsrituale und Stockschläge zur Routine und der von seinen Eltern bewusst "farbenblind" erzogene Junge lernt die strengen gesellschaftlichen Konventionen kennen, die paranoiden Ausprägungen des Rassismus ebenso wie rasende Menschenverachtung.

Eingeschobene Rückblenden halten die Zeit an, rufen immer wieder das frühere Leben auf: beiläufige Momente, Bilder vom alltäglichen Glück, etwa als der Vater die beiden Jungs im Kofferraum ins Autokino in einen Film ab 16 schmuggelt. Sie wirken wie ein Gegengift gegen die neue, brutale Wirklichkeit.

Auch die Freundschaft zu Moses, einem alten farbigen Tankwart und die Liebe zu Marika erhellen das Dunkel. In Moses findet er einen Freund und Verbündeten, er erfindet ein gemeinsames Zukunftsprojekt: Sie möbeln ein schrottreifes Auto auf für die Fahrt ins verheißungsvolle Kapstadt, wo Moses allerdings nie ankommen wird. Die erste Fahrt beendet die Polizei, weil er keinen Pass hat. Der wurde ihm von pöbelnden Weißen abgenommen, die später erneut zugeschlagen hatten.

Von Marika lernt er den aufmerksamen Blick für die Natur und die Kraft, sich über Verbote hinwegzusetzen, die ihr rassistischer Vater ihr regelrecht einprügelt. Die Extreme des Landes, die gnadenlose Aufteilung in Gut und Böse, richtig und falsch, Schwarz und Weiß drängen sie beständig auf, stellen eine Art zornige Abrechnung des 1965 in der Nähe von Kapstadt geborenen Autors dar.

Troy Blacklaws erzählt aus der Sicht von Douglas, oft lakonisch, mit dessen Hang zur genauen Beobachtung, die nämlich, so hatte ihm sein Vater beigebracht, braucht es, um wie er Journalist zu werden. Poetische Details stehen neben skurrilen Überlegungen und Abschweifungen, die der Junge nicht lassen kann, die ihm aber auch oft allzu viel Gefühl vom Leibe halten.

Seine kleinen Fluchten mit Marika überziehen die staubige Landschaft mit neuem Glanz. Vier Jahre braucht Douglas, um erwachsen zu werden, die bittere Nähe von Gewalt und Glück, von Vertrauen und Enttäuschung, von Freundschaft und ihrer Bedrohung, von Mut und Feigheit, von Tod und Lebenswillen anzunehmen - und damit die gemischten Gefühle, statt des ausgrenzenden Entweder-Oders.

Dann braucht er keine Ausflucht nach Malindi mehr, muss seinen Vater nicht mehr auf großer Reise imaginieren. Er weiß, dass er auch ihn für immer verloren hat.

Rezensiert von Barbara Wahlster

Troy Blacklaws: Malindi
Aus dem Englischen übersetzt von Michael Kleeberg
Liebeskind, München 2008
284 Seiten, 19,80 Euro