Das Elend der Avantgarde

Von Frank Lisson |
Tacheles reden bedeutet bekanntlich soviel wie Klartext sprechen, sich offenbaren, die Wahrheit sagen. Der Name sollte Programm sein. Doch nach 20 Jahren ist das Kunsthaus Tacheles bloß noch ein bunter Freizeitpark für Touristen. Woran liegt das? Und warum läuft der Begriff der Avantgarde heute gewissermaßen zwangsläufig ins Leere?
Avantgarde ist das Gespür für Kommendes, für Veränderung, ist Bewegung. Egal, wo der Zeitgeist steht, der Avantgardist ist immer schon einen Schritt weiter. Das ist unbequem, manchmal anstrengend, und es ist riskant. Denn man kann in die Kritik geraten. Aber gerade darin liegt das Wesen echter Avantgarde: Anstoß, auch Ärgernis, auf jeden Fall nicht Spiegelbild der öffentlichen Meinung zu sein. Der Avantgardist flieht vor der stets nachrückenden Mode, denn er will und darf nicht von ihr eingeholt werden.

Was macht es modernen, demokratischen Gesellschaften so schwer, eine heterogene, eigenwillig-freche Kunst- und Literaturszene hervorzubringen? Sobald der Anspruch auf Freiheit amtlich geworden ist, verliert sich der künstlerische wie intellektuelle Impuls, über diesen Zustand hinaus zu wollen. Der Avantgardist sitzt in einer Art Moralfalle, die ihn daran hindert, Avantgardist zu sein. Ihm bleibt allein der Widerstand nach rückwärts, also die Warnung vor den Gespenstern der Vergangenheit, und er verliert sich in das bloße Spiel mit Veränderung und Bewegung, dem die ernste Absicht notwendigerweise fehlen muss.

Der Philosoph Michel Foucault hat 1970 in seiner Vorlesung über die "Ordnung des Diskurses" darauf hingewiesen, dass es zwar immer möglich sei, "im Raum eines wilden Außen die Wahrheit" zu sagen; aber im Wahren sei man nur, wenn man den Regeln einer diskursiven "Polizei" gehorche, die man in jedem seiner Diskurse reaktivieren müsse. – Dieser Satz gilt bis heute.

Sich über Regeln hinwegzusetzen, erfordert neben der Fähigkeit zum originellen, unbefangenen Denken vor allem Mut. Nicht nur den Mut, es sich mit bestimmten Funktionseliten zu verderben, sondern auch den zum Verzicht auf moralisch hochdotierte Vorteilslügen, den Sicherheitsseilen der Zivilgesellschaft. Doch Sicherheit und Avantgarde sind natürliche Feinde. Das zeigte sich besonders deutlich am Kulturleben der DDR. Aber eben nicht nur dort.

Denn wer es wagt, wirklich einmal Tacheles zu reden, wird gleichsam reflexartig abgestraft. Dieser Automatismus ist so eingespielt wie vorhersehbar. Und weil das so ist, gehorcht inzwischen jeder, der sich sozial nicht gefährden will, wie von selbst der "diskursiven Polizei", die längst Teil unseres Denkens geworden ist und stets zur Selbstzensur mahnt.

Der Philosoph Peter Sloterdijk sprach in diesem Zusammenhang von einem "System der Unterwürfigkeit, der organisierten sprachlichen und gedanklichen Feigheit", in dem sich die meisten inzwischen eingerichtet haben, und "das praktisch das ganze soziale Feld von oben bis unten paralysiert".

Besucht man das Tacheles, kann man die Hilflosigkeit und Ohnmacht überall spüren, die so symptomatisch ist für die gesamte Kunst- und Kulturszene dieses Landes. Offenbar genügt die Erkenntnis nicht, dass jedes politische Milieu, sobald es "Mainstream", also "herrschend" geworden ist, freies, kantiges Denken blockiert. Doch was wäre nötig, um den Geist aus der Deckung der Belanglosigkeit wieder hervorzulocken? Etwa erst wirkliche existenzielle Bedrohung wie Armut oder Krieg? Für den echten Avantgardisten sind die Guten von heute immer schon die Bösen von morgen – und umgekehrt. Aber wer wollte sich auf die Konsequenzen dieses Gedankens schon einlassen?


Frank Lisson, philosophischer Schriftsteller, Jahrgang 1970, Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie in Würzburg und München, schreibt Romane, Features, Hörspiele und Sachbücher mit dem Schwerpunkt Kulturphilosophie. Letzte Veröffentlichung: "Homo absolutus. Nach den Kulturen". Im Herbst 2010 erscheint: "Der kulturelle Selbsthass. Versuch zum Verständnis abendländischer Befindlichkeiten".