Das einstige Jerusalem des Ostens

Von Matthias Kolb · 24.08.2009
Die litauische Hauptstadt Vilnius trägt in diesem Jahr neben Linz den Titel der Europäischen Kulturhauptstadt. Für die Juden war sie über Jahrhunderte ein geistiges Zentrum, das als "Jerusalem des Ostens" bezeichnet wurde. Bis der Holocaust alles zerstörte.
Ein kleiner Raum im jüdischen Gemeindezentrum von Vilnius. Jeden Mittwoch trifft sich hier der Jiddisch-Lesekreis von Dovid Katz, der nun die Teilnehmer verabschiedet. Keiner ist jünger als 80 Jahre. Katz’ Vater flüchtete vor den Nazis nach Amerika, sein Sohn lehrte in Oxford und seit zehn Jahren an der Universität Vilnius. Vilnius ist der litauische Name, die Juden hingegen sagen Vilné. Dovid Katz, ein rundlicher Mann mit Rauschebart, erklärt den Ruf der Stadt:

"Lange Zeit war Vilné eines der bedeutendsten kulturellen Zentren des Judentums weltweit. Hier lebte und wirkte im 18. Jahrhundert der Gaon von Vilné, einer der wichtigsten Talmudgelehrten aller Zeiten. Im 19. Jahrhundert entstand hier die moderne hebräische Literatur und später auch die jiddische Sprache. Leider wurde dieses Wissen fast komplett im Holocaust zerstört."

Auch das Forschungsinstitut YIVO wurde 1925 in Vilné gegründet, mittlerweile hat es seinen Sitz in New York. Auch wenn kein Kongress stattfindet, reisen jeden Sommer Nachkommen der Litvaks nach Osteuropa. Dovid Katz forscht über die Dialekte der Litvaks, sammelt Erinnerungen und stößt auf Klischees:

"Es hat sich in der jüdischen Folklore ein typisches Bild entwickelt: Ein Litwak ist besessen vom Lernen und kümmert sich weniger ums Geld. Ihm fehlt ein wenig der Humor, der etwa Juden in Polen auszeichnete."

Wer nach jüdischen Spuren in Vilnius sucht, der braucht detektivisches Geschick. In der Sowjetzeit wurden die Friedhöfe zerstört und wo sich einst die Große Synagoge befand, steht nun ein Kindergarten. Einige Schilder verweisen auf das Ghetto, in das die Nazis die Juden sperrten, bevor diese in den Wäldern erschossen oder in Konzentrationslager gebracht wurden.

Etwa 240.000 Juden lebten zu Beginn des Zweiten Weltkriegs in Litauen, ein Drittel davon in Vilnius – und 94 Prozent wurden ermordet. Nirgends war die Überlebenschance geringer. Diese Zahlen findet man im Ghettomuseum – das grüne Holzhaus entdecken nur Eingeweihte, denn die Behörden genehmigen kein Hinweisschild. Betreut werden Touristen von einem Gedenkdiener aus Österreich, momentan ist dies der 19-jährige Adalbert Wagner:

"Hier im grünen Haus gibt es die Holocaust-Ausstellung, die 1991 eröffnet wurde. Sie ist hauptsächlich von Holocaust-Überlebenden aufgebaut. Das heißt, es ist eine der wenigen Ausstellungen, die wir weltweit noch sehen können, wo man kapiert, wie die Leute, die das durchlitten haben, das Thema jungen Leuten weitergeben wollen und was sie als wichtig empfinden."

Die meisten Besucher kommen aus dem Ausland, nur jede siebte Eintrittskarte wird an einen Litauer verkauft. Während Linz die eigene, unrühmliche Rolle im Dritten Reich thematisiert, hält sich Vilnius zurück. Das Programm beschränkt sich auf einmalige Events. Direktor Rolandas Kvietkauskas:

"Wir präsentieren ein Klezmerfestival, um die traditionelle, jüdische Kultur zu zeigen. Außerdem haben wir den Komponisten Anatoli Schenderuk beauftragt, ein Requiem für die Holocaust-Überlebenden zu schreiben. Diese Veranstaltungen sind uns wichtig, denn sie zeigen die verschiedenen Kulturen in der Stadt."

Welche Rolle Vilnius für Juden, Polen oder auch für Weißrussen spielt, wird dem Normalbesucher nicht klar. Der Historiker Laimonas Briedis beklagt, dass es kein Interesse gebe, Vilnius als europäische Stadt zu präsentieren. Es herrsche eine große Unsicherheit, denn Vilnius konnte nur litauisch werden, indem die vorherigen Bewohner wie die Polen vertrieben oder wie die Juden getötet wurden.

Dass sich Tausende Litauer am Massenmord der Nazis beteiligten, ist bis heute ein Tabu. Die Tatsache passt nicht zum eigenen Bild der Opfernation, die unter den Besatzungen und stalinistischen Deportationen gelitten hat. Also werben litauische Politiker in internationalen Gremien dafür, die Verbrechen von Nationalsozialismus und Kommunismus für gleichrangig zu erklären. Den Alltag der 4000 Juden, die heute in Litauen leben, schildert Dovid Katz:

"Es gibt in Teilen der Presse eine antisemitische Kampagne. Oft erschien eine Karikatur mit dem Titel 'Wer beherrscht die Welt?'. Sie zeigt einen Schwulen neben einem Juden. Ähnliches passiert auch anderswo, aber in Litauen kann man solche Hetze jeden Tag an jedem Kiosk kaufen und Politiker sowie Intellektuelle schweigen dazu."

Aufschlussreich ist ein Besuch in einem Buchladen: Wer sich über das jüdische Vilnius informieren will, muss Englisch oder Deutsch beherrschen, denn auf Litauisch gibt es wenig. Auch der schockierendste Bericht über das Ghetto von Vilné – auf jiddisch verfasst von Abraham Sutzkever – ist bisher nicht übersetzt worden. Dass dieses Buch nun auf Deutsch vorliegt, freut Dovid Katz. Er lobt das Werk – natürlich auf jiddisch:

"Abraham Sutzkevers Memoiren sind ein Werk von hohem literarischen Wert und ich bin sehr zufrieden zu da wissen, dass das Buch in deitschischer Übersetzung erschienen. Es ist sehr wichtig, dass das Buch ist da in anderer Sprachen."

Service:

Näheres zum Programm von Vilnius 2009, der Europäischen Kulturhauptstadt, gibt es im Internet.