Das Drehen und Wenden der Wörter

Das Hörbuch „Vernarrtsein in Worte, Verliebtsein in Sprache…“ macht bewusst, mit welcher Sensibilität und mit welchem Engagement Jurek Becker die Sache der Literatur und also die der Sprache zu seiner eigenen gemacht hat.
„Wenn Du nicht weißt, wo Du herkommst, ist es ein wenig so, als ob du ein Leben lang mit einem Rucksack rumläufst, mit einem Sack auf dem Rücken, ohne zu wissen, was da drin ist. Das ist ein sehr unangenehmer Zustand, und die Beschäftigung damit ist fast schon eine lebenslange Beschäftigung – die Bemühung, rauszukriegen, was in diesem verfluchten Sack drin ist, den ich auf dem Rücken trage.“

Im letzten Interview, das Herlinde Koelbl im Februar 1997 kurz vor seinem Tod mit Jurek Becker führte, betonte der Autor, dass ihm entscheidende Erinnerungen fehlen. Dieses Interview findet sich ebenso wie die Erzählung „Die beliebteste Familiengeschichte“, der Vortrag „Mein Judentum“ von 1977 und die 1989 gehaltene Frankfurter Poetikvorlesung „Warnung vor dem Schriftsteller“ auf dem Hörbuch „Vernarrtsein in Worte, Verliebtsein in Sprache…“.

Christine Becker, sie war seit 1986 mit dem Schriftsteller verheiratet, hat für das Hörbuch von Jurek Becker gelesene Texte ausgewählt, in denen er sich virtuos der deutschen Sprache bedient. Dies ist deshalb erstaunlich, weil er als Kind Polnisch sprach. Jurek Becker kam im Alter von zwei Jahren ins Ghetto Litzmannstadt, aus dem er mit fünf Jahren in ein Konzentrationslager deportiert wurde. Auf dem Anmeldeformular für das Ghetto wurde hinter der Rubrik „Beruf“ Kind vermerkt:

„Deutsch ist nicht meine Muttersprache, ich komme vom Polnischen her. Erst mit acht, fast neun Jahren fing ich an, Deutsch zu lernen, mein Polnisch war da aber ganz und gar nicht das eines Neunjährigen. Es war im Sprachumfang eines Vierjährigen steckengeblieben, denn in diesem Alter wurde ich Umständen ausgesetzt, in denen Sprache so gut wie überflüssig war.“

Als Jurek Becker 1945 aus dem KZ Ravensbrück befreit wurde, kannte er nur die deutschen Wörter: „Alles alle, Antreten-Zählappell und Dalli dalli“. An mehr konnte er sich nicht erinnern. Er musste sich damit abfinden, dass er trotz aller Anstrengungen zu diesem Kapitel seines Lebens keinen Zugang fand. Doch bevor das dem Schriftsteller bewusst wurde, lernte das Kind Deutsch, worüber Jurek Becker in „Mein Judentum“ erzählt.

„Der Umstand, dass ich erst mit acht Jahren Deutsch zu lernen anfing, könnte verantwortlich dafür sein, dass mein Verhältnis zu dieser Sprache ein ziemlich exaltiertes wurde. So wie andere Kinder meines Alters sich für Maikäfer oder Rennautos interessierten und sie von allen Seiten betrachteten, so drehte und wendete ich Wörter und Sätze.“

Beim Drehen und Wenden von Wörtern entwickelte sich Jurek Beckers Gefühl für Sprache, woran sein Vater einen entscheidenden Anteil hatte, der als Lehrer mit ökonomischen Anreizen zu arbeiten wusste. Jurek Becker hat so gelernt, die Worte zu setzen und es später verstanden, seine Texte eindrucksvoll zu Gehör zu bringen. Fast klingt es beiläufig, wenn Becker mit hintersinnigem Humor von Ereignissen erzählt, die alles andere als gewöhnlich sind.

„Für keine schulische Leistung belohnte mein Vater mich so reichlich, wie für gute Noten bei Diktat und Aufsatz. Wir entwickelten gemeinsam ein übersichtliches Lohnsystem: Für eine geschriebene Seite gab es im Idealfall 50 Pfennig, jeder Fehler brachte einen Abzug von fünf Pfennig. So lernte ich nebenbei auch rechnen. In der ersten Zeit verdiente ich kaum etwas, obwohl ich in so großen Buchstaben schrieb, dass es an Betrug grenzte. Aber ich bin ehrgeizig.“

Die deutsche Literatur verdankt dieser pädagogischen Strenge einen Autor, der das Wort schätzte, weil er seine „Vatersprache“ nicht lernte wie andere Kinder ihre Muttersprache. Neben der Bedeutung hatte das Wort für Becker auch seinen Wert. Auf ein für ihn wichtiges Wort kommt er in der Erzählung „Die beliebteste Familiengeschichte“ zu sprechen.

„Meine einzige Brücke zu jener Zeit, die mir am treffendsten mit damals bezeichnet vorkommt, war mein Vater. Als er starb hatte ich nicht das Gefühl, umfassend über damals unterrichtet worden zu sein; die Informationen, die ich von ihm erhalten hatte, kamen mir plötzlich wichtiger vor als ehedem. Ich wusste, dass keine neuen mehr hinzukommen würden, von wem denn, und ich empfand die spärlichen Erzählungen jetzt wie einen Vorrat, mit dem ich sorgfältig umzugehen hatte.“

Jurek Becker, der sorgfältig mit seinen Erinnerungen umging, hat in seinen Büchern versucht, die vergessenen Bereiche seines Lebens zu erkunden. An diesen streitbaren Autor, dessen Roman „Jakob der Lügner“ zur Weltliteratur gehört, wird mit dem Hörbuch erinnert. Dass seine Stimme im gegenwärtigen Literaturensemble fehlt, wird einem schmerzlich bewusst, wenn man hört, mit welcher Sensibilität und mit welchem Engagement er die Sache der Literatur und also die der Sprache zu seiner eigenen gemacht hat.

Besprochen von Michael Opitz

Jurek Becker: „Vernarrtsein in Worte, Verliebtsein in Sprache…“ Prosa, Reden und Interviews
Ausgewählt von Christine Becker
der Hörverlag 2009
4 CDs, 240 Minuten, 24,95 Euro