Das Drama als Gedankenspiel

Von Michael Laages · 03.12.2010
Günter Krämer verzichtet in seiner Inszenierung von "König Lear" in Frankfurt auf blutiges Gemetzel. So wird das Stück zum Abenteuer für den Zuschauer. Bei aller gedanklichen Klarheit bleibt lediglich ein wichtiges Element auf der Strecke: die Emotionen.
Nicht, dass nicht auch dieser Regisseur ab und an die Gegenwart beschworen hätte in einem uralten Text – aber jetzt in Frankfurt verzichtet der Schauspiel- und Opernroutinier Günter Krämer (gerade auch schon 70 geworden) praktisch ganz und gar auf demonstrative Zeitgenossenschaft. Wie viel Aktualität auch überdeutlich lauern mag in der traurigen Shakespeare-Fabel vom überwiegend selbst verschuldeten Verlust aller Macht, aller Selbstzerstörung der Autorität, wie sie der alte, söhnelose Patriarch herauf beschwört in dem Moment, da er das Erbe der eigenen Herrschaft in die Hände der eigenen Töchter legt.

Schlimmer noch: Gleich zwei Väter, der Herrscher selbst mit den Töchtern und Gefolgsmann Gloucester mit den Söhnen, begehen beide den gleichen, fatalen Fehler: vertrauen der Falschheit der Nachkommenschaft, lassen sich (teilweise im Wortsinne) blenden von der Verlogenheit der jungen Karrieristen; und verstoßen die wahrhaft treuen Freunde und Verwandten. Alterswahnsinn pur, idiotische Väter überall – und das Land in Umbruch und Niedergang.

Günter Krämer und das Frankfurter Schauspiel haben eine erstaunliche Textfassung gewählt. Genauer: zwei Versionen bilden den Kern des deutschen Textes. Zum einen die älteste deutsche Übersetzung überhaupt, die der Weimaraner Christoph Martin Wieland zu Goethes Zeiten fertigte, zum anderen die demonstrativ moderne, mit der der Lyriker (und Gelegenheitsübersetzer) Erich Fried Mitte der 70er Jahre eine philologisch zwar umstrittene, aber allemal gewitzte, angriffslustige Shakespeare-Sicht ermöglichen half.

Darum, dank Wieland und Fried, geht Lears Geschichte bei Krämer und in Frankfurt jetzt umstandslos schnell voran; keinerlei formales Palaver, keine Ausschmückung, kein Sprachgeklingel. Stattdessen: Action pur, sozusagen. Auch wenn (und das dann ist der staunenswerte Trick der Inszenierung) diese Action gar nicht wie Action aussieht – so sehr die Textfassung nämlich die Handlung beschleunigt, so beharrlich wird sie zugleich verlangsamt durch den streng zeremoniellen Habitus, den zuweilen geradezu zeitlupenhaften Gestus im Spiel.

Schon in der Eröffnung, mit Lears Reichsteilung, wird die Methode deutlich – jeder Satz, oft jedes Wort ist erst gedacht und dann gesagt; jede spektakuläre Handlung hingegen reduziert, wenn nicht ganz eliminiert. Kein blutiges Blenden, kein Gewitter auf sturmumtoster Heide, keine Schlacht- und Kampfszenerie, kein demonstrativ dramatisches Gesterbe auch gegen Schluss. Das Königsdrama ist hier verknappt zum Gedankenspiel; und es wird zum Abenteuer, dem Ensemble zu folgen auf diesen Krämerpfad.

Auftritt: Das Bühnenbild von Jürgen Bäckmann, es ist den Auftrittsbeifall wert, den es in der Premiere erhält. Bäckmann markiert vor allem die zeremoniellen Unterschiede, so lange Herrschaft noch existiert – oben, im Thronraum auf halber Bühnenhöhe, der grübelnde König, im weiß-roten Prunkornat, als sei er vor allem König von Köln gewesen (Krämer war dort immerhin zehn Jahre lang Intendant). Unten, von Falk Bauer in weite, schwarze Reifröcke gezwängt, die Bewegung quasi unmöglich machen, die Töchter Goneril, Regan und Cordelia samt allem statuarischen Hofstaat drum herum hinter der "Brecht-Gardine", diesem berühmten halbhohen Mini-Vorhang, den einst halt Brecht erfand - oder einer seiner Bühnenbildner, Caspar Neher oder Karl von Appen.

Oben auf der Gardine wird später der Narr wie im Puppen- oder Kasperltheater erscheinen: Constanze Becker, die junge Cordelia, übernimmt auch diese Rolle, unkenntlich hinter einer Komiker-Maske und wie eine Puppe von einem Schauspieler in ihrem Rücken geführt, mit hanseatischem Sprechton zusätzlich verfremdet. Krämer liebt Maskierungen dieser Art – in Hamburg stattete er die Operngesellschaft für Kurt Weills "Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny" mal komplett mit Micky-Maus-Masken aus.

Traute Hoess und Josefin Platt sind demonstrativ "alte" Töchter, vom gleichen Jahrgang eigentlich wie Michael Abendroth als vergrübelter Lear, das nimmt der Inszenierung jede vordergründige Spekulation über den Generationenkonflikt. Und auch auf Becker als Jüngste kann sich das Publikum ja kaum einlassen, es gibt sie nur widerspenstig zu Beginn, dann als Narr und tot am Schluss – hier kappt die Inszenierung alles Versöhnliche; Vater und Lieblingstochter treffen einander nicht wieder und dürfen auch nicht zusammen sterben. Überhaupt stirbt hier eigentlich gar keiner, selbst Lear tappt nur verzweifelnd nach hinten zur Brandmauer, seinem Widerpart Gloster (in Gestalt des fabelhaften Wolfgang Michael) zum Verwechseln ähnlich.

In diesem Schluss wird klar, was der Inszenierung bei aller gedanklichen Klarheit fehlt: Emotion. Gefühl. Tränen. Die beschwört zwar Shakespeare gleich in mehreren Bildern – Krämers Frankfurter "Lear" aber hat keine mehr über den Nieder- und absehbaren Untergang der Welt, wie wir sie kannten. Ehrlicher Beifall, mit Jubel vermischt.

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