Das Dorschwunder der Ostsee

Von Lutz Reidt · 22.07.2012
Ein Ereignis hat im Spätherbst 2011 Forscher wie Naturfreunde entlang der Ostseeküsten elektrisiert: ein vehementer Einstrom von salz- und sauerstoffreichem Wasser aus der Nordsee. Davon profitiert vor allem auch der Brotfisch der Ostseefischer, der Dorsch.
Olivgrün und grau getigert sind die Dorsche, die über dem Arbeitsdeck der Walther Herwig im orangefarbenen Netz zappeln. Dr. Daniel Stepputtis steht auf dem Oberdeck des gut 60 Meter langen Paradeschiffes der deutschen Fischereiforschung. Der Fischereibiologe vom Thünen-Institut für Ostseefischerei in Rostock beobachtet gebannt, wie der Fang geborgen wird.

"Wir sehen, wie der Steert, der Endbeutel vom Netz, hochgehoben wird vom Kran; unten wölbt er sich auf vom Fang, der im Steert ist; und da sehe ich einen Dorsch herausgucken, dort sehe ich auch Plattfische, vielleicht ist da auch ein Steinbutt dabei, das kann ich von hier aus nicht sehen; aber das werden wir gleich sehen, wenn wir ´runter ins Schiff gehen; dort, wo der Fang entleert wird, dort sehen wir dann alle Fische vor uns."

Die Dorsche, die jetzt im Netz zappeln und gleich im Fischbunker unter Deck landen, sind zum Symbol geworden für einen Wandel in der Ostsee. Hier, bei Kap Arkona, in Sichtweite der Nordspitze von Rügen, ist die Fischerwelt in Ordnung. Strahlender Sonnenschein lässt das Wasser glitzern und funkeln, in der Ferne sind schemenhaft die Kreidefelsen von Kap Arkona zu erkennen.

Doch auch unter Wasser ist alles bestens. Denn das größte Brackwassermeer der Welt hat eine Frischzellenkur bekommen. Und zwar aus der Nordsee. Große Mengen Nordseewasser sind Ende 2011 in die Ostsee geströmt. Zum ersten Mal seit zehn Jahren.

Dieses Wasser enthält viel Salz und - vor allem - viel Sauerstoff. Dieser Sauerstoff ist wichtig für das Ökosystem Ostsee. Überall, wo der Strom hingelangt, verwandelt sich ein zuvor noch lebensfeindliches Milieu in ein maritimes Paradies, in dem sich die Meereslebewelt wieder tummeln und entwickeln kann - vom Einzeller über Muscheln und Krebse bis zum kapitalen Dorsch.

"Der Dorsch - gerade der Dorsch in der östlichen Ostsee, östlich der Insel Bornholm - der laicht in den tiefen Becken; die Eier, die der Dorsch dort hinlaicht, die dort in einer bestimmten Schicht schweben, die haben - wenn nicht genug Sauerstoff da ist - einfach ein Problem. Die können nicht atmen und die Eier sterben. Deswegen ist die Nachwuchsproduktion von diesem Dorschbestand insbesondere enorm davon abhängig, wie viel Sauerstoff in den tiefen Becken der Ostsee ist; und das wiederum ist abhängig davon, wie viel sauerstoffreiches, salzreiches Wasser aus der Nordsee in die Becken der Ostsee geschwappt ist."

Dabei zwängen sich riesige Mengen Salzwasser mit Wucht durch die Meerengen zwischen Dänemark, Schweden und Deutschland in die Ostsee. Dies geschieht allerdings nur bei bestimmten Wetterlagen, die über viele Tage hinweg einem ganz bestimmten Muster folgen müssen.

Der Physiker Dr. Rainer Feistel vom Institut für Ostseeforschung Warnemünde (IOW) befasst sich schon seit vielen Jahren mit diesem Naturphänomen:

"Dass dieses Salzwasser mit Gewalt hineingedrückt wird! Und das geht nur so, dass vorher der Ostwind ca. zehn Tage die Ostsee leer blasen muss, dass der Wasserspiegel in der Ostsee ganz stark abfällt; aber er muss halt anhaltend blasen, sodass der Pegel der Ostsee 40, 50 Zentimeter unter dem Mittelwert liegt. Und dann muss der Wind umschlagen auf West, und zwar auf Sturmstärke und muss in dieser Form mindestens 10 Tage weiter blasen, sodass der Pegel der Ostsee dann durch das hereingedrückte Wasser ansteigt auf plus 40, plus 60 Zentimeter."

Zuletzt war es wieder im Spätherbst 2011 soweit, nach knapp neun Jahren. Prompt folgten die Warnemünder Wissenschaftler mit ihren Forschungsschiffen dem salz- und sauerstoffreichen Nordseewasser, das sich - einem riesigen Gletscher gleich - durch die Ostsee wälzte: 20 Meter mächtig und viele Kilometer breit.

Der Chemiker Dr. Günter Nausch vom IOW fasst diesen Weg im Zeitraffer zusammen:

"Dieses salzhaltige, schwere Wasser schiebt sich dann in die tieferen Becken und schiebt sich dort in der Tat am Boden aufgrund seiner größeren Dichte ein und lagert sich unter dem leichteren Wasser ein. Im Arkonabecken war es in der Mitte des Dezembers eingetroffen; und auf einer Untersuchung, die dann Anfang Februar stattgefunden hat, wurden die Signale bereits im Bornholmbecken östlich von Bornholm beobachtet, wo dort dann der gesamte Tiefenbereich zwischen 60 Meter und dem Boden, also bei etwa 90 Meter mit frischem Wasser versorgt worden ist."

Bis Bornholm hat also die Ostsee spürbar aufgeatmet - und dort sogar in ihrer gesamten Tiefe. Davon könnte der Dorsch in den nächsten Jahren erneut profitieren. So wie nach 2003. Nach dem letzten größeren Einstrom damals hat sich vor allem der Bestand östlich von Bornholm sehr gut entwickelt und ist heute sechs Mal so groß wie vor zehn Jahren.

"Der Bestand entwickelt sich tatsächlich annährend so, wie wir das seit Jahren vorhersagen. Das heißt, er nimmt zu und zu und wird die 400.000 Tonnen Biomasse-Marke geknackt haben."

Der Fischereibiologe Dr. Christopher Zimmermann vom Thünen-Institut für Ostseefischerei sieht in dem Salzwassereinstrom eine Gunst der Natur, die dem Dorsch nur deswegen helfen konnte, weil die Fischer den Bestand auch wachsen ließen.

Die illegale Fischerei - lange Zeit ein Hauptproblem in der Ostsee - spielte zuletzt kaum noch eine Rolle. Nach dem Regierungswechsel in Polen im Herbst 2007 wurden vor allem polnische Fischer diszipliniert:

"In der Folgezeit hat Polen sogar mit der Europäischen Kommission über eine "Rückzahlung" von zu viel getätigten Dorschfängen in der Ostsee verhandelt; und seitdem 'zahlen' die Polen tatsächlich jedes Jahr kleine Mengen Dorsch zurück; also nutzen Teile ihrer Quote nicht; und das führt natürlich dazu, dass der Fischereidruck, also die fischereiliche Entnahme unmittelbar gesenkt wurde. Wir gehen davon aus, dass Polen über Jahre seine Quote um ungefähr 100 Prozent überfischt hat; wenn man das sofort reduziert, dann werden - auf den Gesamtbestand bezogen - ungefähr 35 bis 45 Prozent weniger Fisch entnommen."

Und so konnte der Bestand ungestört auf eine Größe anwachsen, die es seit 30 Jahren nicht mehr gegeben hat. Die Kehrseite des Dorschwunders: Das üppige Angebot auf den Märkten schmälerte die Fangerlöse, die Fischer bekamen immer weniger Geld für den Edelfisch. Kurzzeitig plante die Europäische Union sogar, durch Stützungskäufe einen weiteren Preisverfall zu verhindern.

"Die Europäische Union war dabei, Fisch aufzukaufen und ihn zu vernichten, nur damit der Anlandeerlös nicht ins Bodenlose sinkt. Zu dem Zeitpunkt ist ein Großer, ein Global Player, wieder eingestiegen, der sich vor Jahren abgewandt hatte vom Ostseedorsch, weil ihm das zu unheimlich war mit der Vielzahl der illegalen Anlandungen. Der ist wieder eingestiegen, seitdem steigen die Preise tatsächlich wieder. Und ein Dorschfischer kann heute wieder annähernd zwei Euro pro Kilo erlösen, also zwischen 1,50 und zwei Euro; wir waren vor zwei Jahren schon deutlich unter einem Euro Anlandewert."

Eine weitere Schattenseite des Wunders: Vor allem bei Bornholm schwimmen mittlerweile soviel Dorsche umher, dass sie sich bei der Nahrungssuche offenbar gegenseitig Konkurrenz machen.

"Der Bestand nimmt stark zu, aber anders als vor 30 oder 40 Jahren nicht in der ganzen östlichen Ostsee, also bis nördlich Gotland, Archipelago-See, sondern dieser sehr viel größere Bestand ist nun konzentriert auf die Bornholmsee; und das wiederum bedeutet, dass die zunehmend nahrungslimitiert werden. Das heißt, die Dorsche werden nach unseren Erkenntnissen, aber auch der Klage der Fischer immer dünner, sie lassen sich immer schlechter filetieren; also es gibt eine Reihe von Anzeichen dafür, dass sie schlechter wachsen, dünner bleiben und insgesamt nahrungslimitiert sind."

Offenbar haben die Dorsche verlernt, ihrer Nahrung zu folgen. Die Sprotten zum Beispiel, eine Leibspeise der Dorsche, ziehen durchaus weitläufig in der Ostsee umher. Die Dorsche bleiben aber in der Bornholmsee.

Im Schatten der Kreidefelsen vor Kap Arkona sind die Dorsche inzwischen unter Deck, im Fischbunker der Walther Herwig. Daniel Stepputtis wird den Fang gleich begutachten. Der Fischereibiologe ist zufrieden mit der Ausbeute. So wie viele Fischer. Wo winzige Einzeller, Krebse und Würmer vom sauerstoffreichen Nordseewasser profitieren, da geht es auch dem Dorsch gut, dem Brotfisch der Ostseefischer:

"Der Dorsch laicht hier in der Ostsee im Frühjahr, in der östlichen Ostsee findet er sich in den tiefen Becken zusammen, denn dort muss er laichen, damit die Eier in der salzreichen, tiefen Schicht schweben können; und da haben zwar die letzten Einströme bis in die Bornholmsee gereicht, das ist das Becken östlich von Bornholm, aber halt noch nicht in die weiter östlich gelegenen Tiefenbecken. Die Dorsche, die erfolgreich reproduzieren möchten, werden natürlich nicht in die Gotlandsee gehen, dort, wo immer noch Sauerstoffmangel herrscht zum großen Teil, sondern werden sich natürlich in der Bornholmsee konzentrieren und werden dort versuchen, abzulaichen und damit ihren Eiern und Larven einen möglichst guten Start ins Leben zu gewährleisten."

Die Meeresgebiete vor Kap Arkona und Bornholm versprechen satte Fänge. Und in der zentralen Ostsee - zwischen Gotland und Lettland - bleibt in der Tiefe der Sauerstoff aus. Die Ostsee bleibt somit für die Dorschfänger ein geteiltes Meer.
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