Das deutsche Versäumnis

Von Claus Koch · 03.10.2007
Der Deutsche und europäische Weltbürger, der für dieses Land nicht nur Zuneigung, sondern sogar etwas Liebe empfinden kann, wird diesen Tag nicht unbefangen und freudig feiern können. Denn die meisten Deutschen haben noch immer die Nation nicht, zu der sie sich erheben sollen. Es zeigt sich auch nicht, dass sich dies in Zukunft ändern könnte.
Selbst für die Politiker und die anderen Repräsentanten des Staates, die sich heute zu äußern haben, ist das nicht viel mehr als eine Pflichtübung. Es fehlt ihnen die Sprache für die Nation. Nicht wenige wollen zwar stolz auf Deutschland sein, ausdrücken aber können sie das nur bei internationalen Sportfesten und bei wirtschaftlichen Siegesmeldungen. Die Jüngeren haben für das Wort, auch wenn sie nicht ungern Deutsche sind, ohnehin keine Verwendung. Dieser Tag gehört nunmehr zum sozialen Besitzstand der bezahlten Freiheit von Arbeit - ebenso wie die hohen christlichen Feste, deren Herkunft im entchristlichten Land ohnehin nur eine Minderheit kennt. Es gibt den nationalen Gemeingeist nicht, der die Deutschen festlich verbinden sollte.

Die große Chance, dass die Neuvereinigung zu einem rühmlicheren Ende gelingen könnte, war damals ja gegeben. So überrascht, gar widerstrebend sich die meisten Bundesbürger im Westen auf die Zusammenfügung einließen, sie gelang doch erstaunlich schnell. Die westdeutschen Politiker, auch sie überrascht: und kaum vorbereitet, erkannten bald die Gunst der Stunde, die Amerikaner fanden die Vereinigung im Grunde selbstverständlich. Die in der Union verbündeten europäischen Regierungen taten sich damit schwerer. Schließlich musste das neu erstandene Deutschland zum größten und wirtschaftsstärksten Mitglied werden. Und mit guten oder mit schlechten Gründen, sie hielten den neuen Staat noch immer nicht für berechenbar. Doch das Misstrauen ließ sich nach wenigen Jahren auflösen. Es war wie eine europäische Wunderstunde. Doch sie hat nicht zum frohen Ende geführt.

Das Joch der sowjetischen Herrschaft über Mittel- und Osteuropa ließ sich abschütteln, und damit nahm auch der Kalte Krieg mit seiner Drohung des gegenseitigen Selbstmords, mit dem man sich drei Jahrzehnte lang abgeschreckt hatte, ein Ende. Überdies standen die Sterne für eine politische Zusammenbindung von Markteuropa so günstig wie nie zuvor. In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre wurde nicht nur die Gemeinschaftswährung geschmiedet, es stand auch endlich eine politische Verfassung für die europäischen Staatsnationen in Aussicht. Die besten Bedingungen für die Aufnahme der vereinigten Deutschen, die allen nationalistischen Phantasmen abgeschworen hatten, waren gegeben.

Diese Bedingungen wurden jedoch in kurzer Zeit von der Globalisierung überrollt - also der stummen Oberherrschaft der internationalen Finanzmärkte. Diese nehmen wenig Rücksicht auf Nationen und ihre Besonderheiten, auf staatliche Sicherheiten und Traditionen. Sie streben einer planetaren Totalität des Marktes zu, die allen Interessen eines politischen Gesamteuropas der Nationen zuwider geht. Überrollt wurde auch das erst halbfertige politische, durch die östlichen Nachbarnationen ergänzte Unionseuropa, das immer weitere Kräfte an den Weltmarkt abgeben muss. Überrollt wurden schließlich die Deutschen, die nun zur Eigenheit ihrer nationalen Republik nicht mehr finden konnten. Diese jedoch bleibt die notwendige Voraussetzung für ein politisches Gemeinschaftseuropa. Mit der nationalen Schwäche der Deutschen sind auch die anderen europäischen Nationen geschwächt. Sie alle brauchen Europa, um sich auf eigenen Beinen erhalten zu können. Sie sind auf die europäische Gemeinkraft angewiesen - und dies umso mehr, als das ständig stolpernde Imperium Amerika von Tag zu Tag mehr Turbulenzen und Fehlhandlungen nach sich zieht. Es fehlt den Europäern nicht nur die Einmütigkeit, die vor zwanzig Jahren am Horizont zu sehen war. Es fehlt vor allem die Befriedungsmacht, die den Europäern zugemutet werden kann. Das demonstrieren die armseligen Hilfs- und Statistenrollen, die sie sich im mittleren Osten zumuten lassen, um das schwankende Amerika zu stützen. Deutschland, das so glücklich und hoffnungsfroh zusammenfand, hat sich versäumt. Es wäre unfair, den Deutschen ihr folgenreiches Weltversäumnis zur Last zu legen. Aber es bleibt, dass sie aus der Gunst der Stunde zu wenig gemacht haben. Auch heute noch ist der deutsche Politiker, der dies klar sehen und aussprechen wollte, nicht zu finden. Die Deutschen, so erfreulich friedfertig sie nun sind, können sich offensichtlich aus ihrer Zukunft wenig machen. Deswegen können sie den Nationalfeiertag, der ihnen verordnet wurde, nicht erwartungsvoll begehen. Und die Nation heißt immer ‚Erwartung’.

Claus Koch, in München geboren, studierte Philosophie, Ökonomie und Geisteswissenschaften und war zunächst in einem Wirtschaftsverlag tätig. Seit 1959 arbeitet er als freier Journalist für Presse und Rundfunk, seit 2003 gestaltet er den Mediendienst "Der neue Phosphorus". In den 60er Jahren redigierte Koch die Monatszeitschrift "atomzeitalter", später war er Mitherausgeber und Redakteur der Zeitschrift für Sozialwissenschaft "Leviathan" und Mitarbeiter mehrerer sozialwissenschaftlicher Forschungsprojekte. Zu seinen Buchveröffentlichungen zählen "Ende der Natürlichkeit - Streitschrift zur Biotechnik und Biomoral", "Die Gier des Marktes - Die Ohnmacht des Staates im Kampf der Weltwirtschaft" und "Das Ende des Selbstbetrugs - Europa braucht eine Verfassung".
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