Das deutsch-russische Verhältnis

Lehren aus der Entspannungspolitik ziehen!

Merkel und Putin sitzen auf Gartenstühlen im Park von Schloss Meseberg.
In den deutsch-russischen Beziehungen - hier Bundeskanzlerin Merkel mit dem russischen Präsidenten Putin - sollte der Blick auch in 70er-Jahre gehen, rät Historiker Peter Brandt. © AP / Pool Sputnik Kremlin
Eine Analyse von Peter Brandt · 08.10.2018
Das deutsch-russische Verhältnis ist so schlecht wie lange nicht. Was tun? Forderungen stellen, Defizite benennen, Druck ausüben. Alles richtig, meint Historiker Peter Brandt, aber man sollte sich auch an die Entspannungspolitik der 70er erinnern.
Die rechtsstaatlichen und demokratischen Defizite der inneren Ordnung Russlands muss man illusionslos zur Kenntnis nehmen, eine Antwort auf die Herausforderung der europäischen, namentlich der deutschen Politik gegenüber diesem Land ist damit aber nicht gegeben.
Entspannungspolitik richtet sich per definitionem nicht an Verbündete und Freunde, sondern an Kontrahenten und potenzielle Gegner. Das gilt für die Gegenwart mit ihrer international immer ausgeprägteren multipolaren Struktur ebenso wie für die Jahrzehnte des Ost-West-Konflikts. Und wie dieser in seiner Entstehungsphase, ist die erneute Zuspitzung zwischen der NATO und der Russischen Föderation während der vergangenen fünf bis zehn Jahre zu einem gewissen Anteil wechselseitiger Fehlwahrnehmung geschuldet. Es kann als sicher gelten, dass diese Entwicklung in Russland autoritäre und nationalistische Tendenzen gestärkt hat.

Sich in die Realitätswahrnehmung des anderen hineinversetzen

Bei den Beziehungen von Staaten oder Staatengruppen untereinander geht es zuallererst und hauptsächlich um Interessen, nicht um Sympathien beziehungsweise Antipathien der Politiker oder Völker. Interessen können aber unterschiedlich definiert und auf unterschiedliche Weise verfolgt werden. Einschätzungen von Interessenlagen können sich verändern, das ist ein weiteres Axiom der früheren Entspannungspolitik – ebenso die Erkenntnis, dass man versuchen muss, sich in die Interessen- und Realitätswahrnehmung der jeweils anderen Seite hineinzuversetzen, um die Logik ihres Handelns zu begreifen.
Die derzeitige, in mancher Hinsicht eher an den Kalten Krieg in seiner Hochphase als an die Periode der friedlichen Koexistenz und Entspannung im Ost-West-Konflikt erinnernde Phase der Konfrontation zwischen Russland und dem Westen wurde ausgelöst durch den innenpolitischen Konflikt in der Ukraine, einem seit der Unabhängigkeit 1991 muttersprachlich-kulturell, konfessionell und politisch zerrissenen Staat. Diesem Konflikt, der sich 2014 gewaltsam entlud, liegt also ein struktureller Gegensatz zugrunde, den sich zwei einheimische Oligarchenfraktionen zunutze gemacht und in den sich Russland wie (weniger offensichtlich) die USA eingeschaltet haben.
Die transatlantische sogenannte "westliche Wertegemeinschaft" ist dabei, sich aufzulösen, und das liegt nicht allein an einem etwas eigenartigen amerikanischen Präsidenten. Schon länger blicken die USA aus ökonomischen Gründen mehr nach Asien als nach Europa.

Eine Freihandelszone von Lissabon bis Wladiwostok

Europa könnte die Abwendung des Trump-Amerikas vom "Westen" auch als Chance nutzen, sich als politisch eigenständiger, militärisch rundum verteidigungsfähiger und zugleich zum Angriff strukturell unfähiger Staatenverbund zu formieren – wonach es derzeit nicht gerade aussieht.
Wenn es einen außenpolitischen Bereich gibt, in dem Deutschland eine europäische Führungsrolle zu übernehmen hätte, dann wäre es der Neuanfang der Beziehungen zwischen der EU und Russland; es ist dafür nicht zuletzt wegen der wechselvollen und zeitweise leidvollen deutsch-russischen Geschichte prädestiniert.
Eine komplementäre Verschränkung der Wirtschaft EU-Europas einerseits, der ehemaligen Sowjetrepubliken, namentlich der Russischen Föderation, andererseits würde sich geradezu anbieten, auch unter dem Gesichtspunkt der Behauptung in einer zunehmend globalisierten, durch die Konkurrenz der aufsteigenden asiatischen Mächte dynamisierten Weltwirtschaft. Eine paneuropäische Freihandels-, Wohlstands- und Friedenszone von Lissabon bis Wladiwostok könnte zum Vorbild und Ausgangspunkt einer weltweiten Neuordnung der Staatenwelt werden, um Energien frei zu bekommen für die Lösung der elementaren Menschheitsprobleme.

Peter Willy Brandt ist Historiker und Professor im Ruhestand für Neuere und Neueste Geschichte. Schwerpunkte seiner wissenschaftlichen Arbeit liegen auf den Gebieten Nationalismus und bürgerlicher Wandel seit dem 18. Jahrhundert, vergleichende europäische Verfassungsgeschichte seit dem 18. Jahrhundert, Geschichte der Arbeiterbewegung und des Sozialismus und die Deutsche Frage.

© imago / Metodi Popow
Mehr zum Thema