Das deutsch-britische Theaterkollektiv Gob Squad

Kochen gegen den Brexit-Irrsinn

17:49 Minuten
Das deutsch-britische Theaterkollektiv Gob Squad. Das Foto ist eine Gruppenaufnahme, die Bezug nimmt auf die aktuelle Inszenierung des Stücks. Die sieben Schauspieler posieren mit Kochschürzen und Kochzutaten.
Kochen gegen das Brexit-Drama: das deutsch-britische Theaterkolletiv Gob Squad. © Gob Squad
Sean Patten und Sarah Thom im Gespräch mit Susanne Burkhardt · 16.03.2019
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"I love you, goodbye!" ruft die Theatergruppe Gob Squad den aus der EU abziehenden Briten hinterher. Ihr gleichnamiges Performance-Projekt sucht eine Antwort auf das Brexit-Drama, das sich auf der Insel abspielt.
Susanne Burkhardt: Welcome Sarah, welcome, Sean!
Sean Patten: Thank you, danke!
Burkhardt: "I love you – good bye – The Brexit Edition", das klingt nach schlimmem Trennungsschmerz, aber dieser Trennung ging ja schon eine Beziehungskrise voraus, nämlich die Entscheidung für den Brexit 2016, also schon vor drei Jahren. Ich vermute mal, dass dieser Tag 2016, als die Entscheidung fiel, das Referendum also so ausging, dass Großbritannien die EU verlassen will, dass das so ein Tag war wie für viele der 11. September oder der Tag des Mauerfalls oder für manche sogar der Tag, an dem Ladi Di starb, also ein Tag, von dem man genau weiß, wo man war, als man davon erfahren hat. War das bei Ihnen auch so?
Patten: Es war so, ja. Wir waren komischerweise auf Tour in Norwegen, und viele Norweger haben uns gratuliert, weil die haben genau diese Beziehung mit der EU, wie Großbritannien womöglich will, also halb drin, halb draußen. Sie haben uns gratuliert. Für uns war es sehr seltsam, weil wir gingen ins Bett, die Hochrechnung war knapp, aber Großbritannien bleibt drin, wir sind dann alle aufgewacht früh und dann, ja, kam die Horrornachricht: Nein, wir sind doch draußen. Und dann haben die Norweger uns gratuliert – also noch seltsamer.
Burkhardt: Sarah, konnten Sie sich jemals vorstellen, dass das passieren würde? Also hatten Sie damit gerechnet?
Sarah Thom: Als David Cameron anfing, den Austritt ins Gespräch zu bringen, gehörte ich gleich zu denen, die gedacht haben: Ja, es wird so kommen. Ich bin selbst aus Nordengland, und mir war klar, wenn es darüber wirklich eine Volksabstimmung geben wird, dann werden die Menschen sich dazu entscheiden, die EU zu verlassen.

"Die Armen haben sich übergangen gefühlt"

Burkhardt: Hatten Sie denn auch Verständnis für die Anti-Establishment- und Anti-Globalisierungsposition Ihrer Landsleute?
Thom: Ja, ich selbst komme aus einer sehr armen Working-Class-Gegend, wo die Leute keine Arbeit haben, kein Eigentum. Sie sehen für sich keine Zukunft, haben das Gefühl, seit vielen Jahren ignoriert worden zu sein. Die britische Politik ist sehr zentralisiert, und die Menschen mit wenig Geld, die Armen, haben sich übergangen gefühlt. Die Menschen hatten einfach nichts zu verlieren.
Patten: Also wir sind aufgewachsen mit Medien, die jeden Tag diesen Mythos füttern, dass Brüssel, dass die EU unser Gegner ist und unser freies Land verhindern will, also ganz verrückte Geschichten, ja, die EU will unsere Pints in einen halben Liter umändern, dass verbogene Bananen nicht mehr erlaubt sind, also diese ganzen Lügen und Mythen.
Thom: Man muss auch sagen, dass die Brexit-Kampagne brillant war. Auch das ist ein Grund für das Wahlergebnis. Es war alles Quatsch, aber es war sehr gut gemacht.
Patten: Take back control, wer will das nicht?
Thom: Ja, ihre Slogans, wie sie die Medien benutzt haben – die schlimmstmögliche Kampagne. Wir haben dasselbe bei Trump erlebt und beim Aufstieg der Rechtspopulisten: Das funktioniert. traurigerweise. Man kann nicht naiv sein und erwarten, dass diese populistische Mentalität keine Früchte tragen wird.
Burkhardt: Und dennoch, obwohl Sie wussten, dass der Brexit möglicherweise kommt, konnten Sie ruhig schlafen gehen in der Nacht davor?

"Es war tief emotional"

Patten: Nein, absolut nicht. Also wir waren alle traurig. Meine Mama hat mich angerufen so vor Sonnenaufgang, meine Schwester, wir haben alle geweint. Also wir waren schockiert, weil wir spürten, dass es nicht nur um Großbritannien oder ein Handelsabkommen geht, sondern es ging um die ganze Welt und wie Menschen miteinander sprechen. Ja, es war ein Sieg für Pessimismus statt Optimismus und es war tief emotional.
Burkhardt: Wir haben eine sehr aufregende Woche in Sachen Brexit-Entwicklung hinter uns. Seit Mittwoch wissen wir, dass No-Deal-Brexit keine Option mehr ist. Seit Donnerstag gibt es eine beantragte Verschiebung des Austritts. Wie verfolgen Sie gerade diese täglichen Abstimmungen in Großbritannien? Interessiert Sie das, verfolgen Sie das noch, oder sind Sie eigentlich schon ein bisschen müde?
Patten: Also beides. Wir sind satt vom Thema, aber auch süchtig, jedes kleine Krümelchen von Nachrichten zu hören. Also wir sind ständig an unseren Smartphones, am Radio, am Fernseher, was ist das Neueste? Aber wir sind auch satt von dem Thema. Es gibt andere Sachen, die noch wichtiger sind in der Welt, nicht nur Brexit.
Thom: Ich bin von der Theatralik völlig fasziniert – das Drama, das sich da im Parlament abspielt. Davon werden wir am 29. März auch einiges mit in unsere Aufführung einfließen lassen. Es ist wirklich interessant, wie die Deutschen gerade darüber reden, wie sich unsere Parlamentarier im Unterhaus aufführen. Ich kenne das ja schon lange, aber jetzt versuche ich, mir das mit den Augen derjenigen anzuschauen, die nicht britisch sind und gerade feststellen, was für ein unglaubliches Theater da stattfindet.

Das Unterhaus, ein Kammerspiel

Burkhardt: Ist es aber auch, weil der Ort, das Unterhaus, weil das so klein ist? Die Leute sitzen ja wahnsinnig eng beieinander, man sieht, dass die Körper sich spüren. Ich habe auch gedacht, das ist wie ein Kammerspiel eigentlich, in dem ständig Monologe gehalten werden.
Thom: Ganz genau. Mich interessiert der Ablauf dieser Debatten, ihre Struktur, die Traditionen und all diese Regeln. Und dann brechen einzelne Abgeordnete plötzlich die Regeln und werden zur Ordnung gerufen. Es sieht manchmal aus wie eine wahnsinnig interessante, partizipative Theater-Performance.
Burkhardt: Wird das in irgendeiner Form in Ihrer Performance auch eine Rolle spielen?
Patten: Ja. Wir haben ein wunderschönes, 100 Jahre altes Theater, was nicht unähnlich aussieht wie das House of Commons in London. In unserer Performance, die dauert sechs Stunden lang, sind wir eine Gruppe von Leuten, die versucht, verschiedene Meinungen auszutauschen und einen Konsens zu finden. Und der Chef von der Performance ist diese Speaker-Position, dieser Mister Speaker oder Madam Speaker, genau wie im House of Commons. Also er oder sie ist das Oberhaupt von diesen Procedures. Und das ist eine wechselnde Position, die wir alle betreten. Aber was passiert in unserer Performance, ist, dass wir nicht nur reden, sondern dass wir kochen, unter dem Motto: Bevor wir uns trennen am 29. März, müssen wir einander wirklich verstehen, und man kann einander nur verstehen, wenn man weiß, wie man sein Lieblingsgericht kocht.
Burkhardt: Man sagt auch, Liebe geht durch den Magen.
Thom: Wir haben genau dasselbe Sprichwort.
Patten: Closest way to the heart …
Thom: … is through the stomach, the closest way to the heart is through the stomach.
Patten: Also wir kochen regionale Gerichte aus Nordengland, Südengland, Deutschland, weil wir finden, dass durch diese Liebe an regionale Gerichte und die Traditionen dahinter, … Wir haben eine Art zu reden gefunden von Zugehörigkeit, Identität, wo ich herkomme – und das sind die Themen von Brexit. Aber wir reden nicht von Nationen, sondern der persönlichen Geschichte und dem persönlichen Lieblingsgericht. Und ich habe was in meiner Tasche, was ich dir gern zeigen will.
Burkhardt: Ja, gern.
Patten: Das sind Geschirrtücher.

"Ein Geschirrhandtuch kann nicht offensiv sein"

Burkhardt: Das sind Geschirrtücher aus Großbritannien und aus Deutschland mit den jeweiligen Sehenswürdigkeiten drauf. Das ist ja sehr kitschig.
Thom: Ja.
Patten: Es ist sehr kitschig. Also diese Geschirrtücher, das ist irgendwie sehr nationalistisch, aber ein Geschirrtuch kann nicht offensiv sein. Das ist so eine gemütliche Art, über Zugehörigkeit und Herkunft zu sprechen.
Burkhardt: Diese kulturellen Unterschiede, haben die eigentlich in Ihrer Arbeit – Sie sind ja ein binationales Theaterkollektiv –, haben diese kulturellen Unterschiede eine Rolle gespielt in Ihrer Arbeit bisher? Oder ist das erst größer ein Thema, seit es diesen Brexit gibt?
Thom: Es hat sich interessanterweise von Anfang an auf unseren Arbeitsprozess ausgewirkt. Wir erarbeiten unsere Stücke ja auf Englisch und müssen anschließend einiges übersetzen. In dem Zusammenhang diskutieren wir oft über Sprache. Wir machen ja immer wieder unsere ganz privaten Erfahrungen zum Thema und stellen fest, dass manche Geschichten verständlicher sind als andere. Dann bekomme ich schon manchmal zu hören: Sarah, wenn du diese Geschichte erzählst, wird kein Mensch in Deutschland verstehen, wovon du überhaupt redest. Inzwischen achte ich schon von vornherein darauf. Also ja: Mit den kulturellen Unterschieden haben wir von Anfang an zu tun gehabt.
Patten: Aber in diesem Stück kommt das im Vordergrund. Also normalerweise wirkt das dann im Hintergrund und wir suchen die Gemeinsamkeiten auf die eine, globalisierte Kultur, wo wir alle einen Bezug haben. Aber für dieses Projekt interessieren uns die kulturellen Unterschiede. Das heißt, in dem Stück handelt es sich nicht unbedingt explizit um Brexit, also der Haupttitel ist "I love you – good bye", und es geht um im ganz breiteren Sinne Verständnis zwischen Menschen, Missverständnisse und wie viel Verständnis ist notwendig, um einen Menschen zu lieben?
Burkhardt: Sie arbeiten ja, was wirklich besonders ist, seit 25 Jahren zusammen. Lernen Sie sich jetzt in den Proben noch mal neu kennen?

Der Zweite Weltkrieg und ein Abendessen 2019

Patten: Ich glaube, weil es um Kochen und Essen geht, die unterschiedlichen Familientraditionen, haben wir viel voneinander gelernt. Manche sind aufgewachsen in Häusern, wo Baked Beans aus der Dose und Toast eine Mahlzeit sind, und für manche wird immer eine Stunde lang gekocht mit verschiedenen Zutaten. Und die unterschiedlichen Rollen, das Essen in der Familie, und auch, wie weit Gewohnheiten von der noch früheren Generation, also die Kriegsgeneration war erzogen, den Teller immer leer zu essen, wie das nachwirkt, ist auch interessant, zu spüren, was der Zweite Weltkrieg für einen Einfluss hat darauf, was auf dem Abendessen-Teller liegt in 2019.
Thom: Interessant wird es vor allem, wenn man sich die verschiedenen Gegensätze mal genauer anschaut. Es geht nämlich gar nicht nur um den Unterschied zwischen Deutschland und England, manchmal geht es um den Unterschied zwischen Arbeitermilieu und Mittelschicht. Manchmal müssen sich auch zwei Briten miteinander auseinandersetzen, weil der eine aus dem Norden kommt und die andere aus dem Süden. Es ist ziemlich interessant, wie dieses Bewusstsein für Unterscheide die Perspektive erweitert. Es gibt viele solche Diskussionen im Stück. Es geht eben keineswegs nur um den Brexit.
Burkhardt: Ein Unterschied zwischen Deutschland und England ist sicherlich die Kulturförderung, ich glaube, dass es für freie Gruppen in Deutschland wesentlich leichter ist als in England, wo die Kulturförderung, glaube ich, in den letzten Jahren sehr massiv zurückgefahren wurde. War das auch ein Grund, dass Gob Squad in Berlin angesiedelt ist, also in Deutschland?
Patten: Ursprünglich ja, ursprünglich. Wir hatten mehr Möglichkeiten hier in Berlin als in Großbritannien. Ich glaube, es wäre möglich in England, aber wir würden vielleicht nicht solche großen Produktionen herstellen.
Thom: Ich glaube, das hat auch damit zu tun, dass wir schon in unseren Anfängen als Gruppe nach Berlin gekommen sind. In England hat man uns eher wie eine Nachwuchsband aus der Nachbarschaft betrachtet. Hier in Berlin haben die Leute unsere Arbeit weitaus ernster genommen. In Großbritannien herrschte auch ein gewisser Antiintellektualismus, aber als wir hier her kamen, hat man uns nicht komisch angeschaut, weil wir erst einmal sehr viel über Konzepte gesprochen haben. Ich glaube, wir haben hier einfach sehr gut her gepasst. Vieles hat sich inzwischen natürlich geändert, aber ich glaube, wir haben hier ein Zuhause gefunden.
Burkhardt: Wenn es am 29. März zu Ihrer Performance kommt und danach zum Austritt aus der EU Großbritanniens, was bedeutet es dann eigentlich für Sie? Ich glaube, Sean Patten, Sie haben eine deutsche Staatsbürgerschaft auch inzwischen?
Patten: Ja. Sobald der Volksentscheid verkündet wurde, habe ich geahnt, in welche Richtung der Wind kommt, bläst.
Burkhardt: Weht.

Nicht in Panik ausbrechen

Patten: Weht, danke. Dann habe ich mich für die deutsche Staatsbürgerschaft beworben. Ich bin jetzt beides, Deutsch und Englisch.
Burkhardt: Sarah Thom, was bedeutet das dann für Sie?
Thom: Ich versuche, nicht in Panik auszubrechen. Mein Deutsch ist sehr schlecht. Ich habe Legasthenie. Deswegen habe ich große Probleme damit, Sprachen zu lernen und kann den Einbürgerungstest nicht machen. Natürlich bin ich besorgt, was die Zukunft betrifft, aber andererseits: Warum sollte es ausgerechnet für mich leicht sein? So viele Menschen kommen von außerhalb der EU nach Berlin und müssen hart kämpfen. Ich muss nun denselben Prozess durchlaufen wie sie. Damit muss ich klarkommen. Darauf freue ich mich nicht, ganz und gar nicht, aber ich nehme an, es ist eine weitere bürokratische Hürde, die ich nehmen muss.
Burkhardt: Aber was passiert, wenn – was ja momentan viele vermuten sogar – es eine Verschiebung des Termins gibt, also wenn der Aufschub in Sachen Austritt, wenn dem stattgegeben wird? Findet die Performance dann trotzdem statt?
Patten: Ja. Also Brexit ist der Aufhänger, sagt man das so, aber es geht um viel mehr. Wir nutzen die Gelegenheit, über das Ganze zu sprechen, zu reden, zu reflektieren. Und wenn der Brexit um Mitternacht tatsächlich nicht passiert an dem Tag, ist nicht so schlimm.

Nicht für die Ewigkeit, alles bleibt in Bewegung

Burkhardt: Also das heißt, das wird kein wirklich nur trauriger Abend, sondern es darf wahrscheinlich auch gelacht werden.
Patten: Hoffentlich. Wir wollen die Sache von allen Seiten anschauen, und es ist komplex, es ist nicht nur, ach, wie schade, oh, wie schön.
Thom: Ich glaube, nichts ist für die Ewigkeit gemacht, alles bleibt in Bewegung. Man muss ein paar Eier aufschlagen, wenn man ein Omelett machen will. Das ist gar nichts Schlechtes. Eine Tür schließt sich, eine andere geht auf. Wie bei allen Beziehungen ist es nicht immer schlimm, wenn etwas zu Ende geht.
Patten: Vielleicht ist es nicht so schlimm, dass Großbritannien ein paar Jahrzehnte Auszeit nimmt, um wirklich zu erkennen, dass Großbritannien keine Weltmacht mehr ist und lernen muss, wie viele europäische Länder, mit anderen Ländern zusammenzuarbeiten, und vielleicht braucht Großbritannien wirklich ein bisschen Zeit weg von diesem Winston-Churchill-Zweite-Weltkrieg-Mythos, um wirklich im 21. Jahrhundert zu landen als kleine Nation.
Burkhardt: "I love you – good bye – The Brexit-Edition", das ist die große Brexit-Performance von Gob Squad, aber es geht nicht nur um Brexit, und die ist zu sehen am Freitag, am 29. März.
Patten: Zwischen 19 Uhr und 1 Uhr darf man ankommen. Man muss nicht Punkt sieben Uhr da sein.
Burkhardt: Und zwar im Hebbel am Ufer in Berlin. Ganz herzlichen Dank an Sarah Thom und an Sean Patten von Gob Squad. Danke schön!
Patten: Vielen Dank!
Thom: Thank you!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

"I Love You, Goodbye (The Brexit Edition)", mit Gob Squad, 29. März 2019, 19 bis 1 Uhr, Hebbel am Ufer in Berlin.

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