Das Comeback der Bürgerlichkeit

Moderation: Jürgen König · 27.12.2005
Die Krise des Sozialstaates ist nach Ansicht des Historikers Paul Nolte der Grund für eine Rückkehr der Bürgerlichkeit in Deutschland. Die Suche nach einer neuen Bürgerlichkeit sei eine Reaktion auf die "Super-Individualisierung" der Gesellschaft, sagte Nolte im Deutschlandradio Kultur.
König: Den "Langen Abschied vom Bürgertum" konstatierten gerade die Verleger Joachim Fest und Wolf Jobst Siedler, der Historiker Paul Nolte hingegen plädiert für eine "Neue Bürgerlichkeit": in seinem Buch "Generation Reform" und soeben auch in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift "vorgänge, Zeitschrift. für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik". Guten Morgen, Herr Nolte.

Nolte: Schönen guten Morgen.

König: Siedler und Fest sprechen vom Abschied vom Bürgertum, Sie verfechten die These von der Rückkehr der Bürgerlichkeit. Wie geht das zusammen?

Nolte: Ach, der Abschied vom Bürgertum, der ist schon so oft verkündet worden, da hatte das Bürgertum kaum angefangen zu existieren. Das sind natürlich auch generationelle Stimmungen: Fest und Siedler, zwei ältere Herren, wenn ich das mal so etwas despektierlich sagen kann, die auch einen bestimmten Habitus mit ihrer eigenen Existenz vielleicht tatsächlich verloren geht, das will ich gar nicht bestreiten, auch nachtrauern, da werden Wetten abgeschlossen, dass man auf dem Kurfürstendamm zehn Minuten spazieren gehen kann, ohne jemandem mit Krawatte zu begegnen, und wenn das dann eintritt und die Menschen eben nicht mehr so gekleidet sind, wie sich Herr Fest und Herr Siedler das vorstellen, dann ist das Bürgertum zugrunde gegangen. Ich finde, da sind andere Kriterien maßgeblicher und Bürgertum kann sich auch neue Formen suchen und ist sicherlich nicht an bestimmte Kleidungsstile des 19. oder mittleren 20. Jahrhunderts gebunden.

König: Was für einen Habitus von Bürgerlichkeit schwebt Ihnen denn vor?

Nolte: Na ja, Bürgerlichkeit, das sind sicherlich vor allen Dingen innere Werte oder besser noch gesagt Verhaltensformen. Man redet ja viel über Werte und Tugenden und ich glaube, das wichtige am Bürgertum ist, dass es solche Werte gibt, aber dass diese Werte nie in sich selbst ruhen, sondern dass diese Werte irgendwo auch in bestimmtem Verhalten dann auch praktisch werden. Ein wichtiger Kernwert von Bürgerlichkeit ist nach wie vor Selbstständigkeit, aber jetzt nicht im Sinne von sozusagen mittelständischem Unternehmer oder eine selbstständige wirtschaftliche Existenz haben, sondern die Fähigkeit, selbstständig sein Leben zu führen, sein Leben im Griff zu haben und eine selbstständige Existenz in diesem ganz weiten Sinne sich zu entwerfen.

König: Wie halten Sie es mit dem klassischen Wertekanon, also mit dem, was man klassisch unter bürgerlichen Werten versteht: Fleiß, Disziplin, Moral, Manieren, Familie?

Nolte: Das ist ein langer Katalog, vieles davon sind ja die Dinge, die lange Zeit so ein bisschen als Sekundärtugenden abqualifiziert worden sind, ich finde jetzt auch nicht, dass man die nach ganz oben aufs Podest stellen sollte, also Bürgerlichkeit so im Sinne von "üb immer Treu' und Redlichkeit", das ist eigentlich nicht das, was wichtig ist.

Familie, das ist schon etwas anderes, das nimmt auch andere Formen an, das ist auch eben nicht nur ein Wert, so wie fleißig sein und pünktlich sein, sondern dahinter verbergen sich bestimmte elementare Sozialformen, ein bestimmter Umgang mit anderen, die Fähigkeit, Verantwortung zum Beispiel für andere zu übernehmen, egal ob man verheiratet ist oder nicht oder ob sich da inzwischen ein Patchwork ergeben hat oder nicht. Das bedeutet schon eher in diesem Bereich von Bürgerlichkeit auch als selbstständige Lebensführung, als praktisch gelebtes Leben.

König: Wenn Sie einer neuen Selbstständigkeit des Einzelnen das Wort reden, dann heißt das auch politisch gesehen weg von der Versorgungsmentalität, hin zur Verantwortungsgesellschaft?

Nolte: Ja, also sicherlich, diese Frage nach der Rückkehr von Bürgerlichkeit, muss man ganz vorsichtig auch sagen, das ist ja eine Frage, die hat in vielem auch zu tun mit Krisen des Sozialstaates oder Veränderungen und dem Verhältnis zwischen dem, was Bürger selber machen, was der Staat gemacht hat, auch Veränderungen, ganz allgemein gesagt, zwischen dem Individuellen und dem Kollektiven.

Ich glaube, die Suche nach der neuen Bürgerlichkeit ist auch eine Reaktion darauf, dass wir einerseits sehr viel individueller geworden sind, dass wir Individualität gesteigert, vielleicht manchmal übersteigert haben in einer "Superindividualisierung" unserer Gesellschaft, andererseits uns gerne, wenn es dann kritisch wird, auf die großen kollektiven Mechanismen wie den Staat verlassen und das Bürgerliche ist wie ein Mechanismus auch in der Mitte der Sache. Wir können nicht nur alles für uns alleine machen, wir müssen - Stichwort Familie oder bürgerschaftliches Engagement, Ehrenamt - auch Verantwortung für andere übernehmen, es kann nicht nur immer eine Egogesellschaft sein, so wie sich dieses Stichwort ja häufig zeigt.

Andererseits aber auch: Wir können uns nicht auf die ganz großen Systeme, auf den Staat nur verlassen, sondern müssen erstmal fragen: Was kriegen wir denn hier bei uns hin, vor Ort oder in kleineren Zusammenhängen, wie können wir denn hier in einem Verein oder in unserem Stadtteil selber vielleicht wirksam werden, ohne immer gleich nach der großen staatlichen Leistung zu rufen.

König: Nun blieb ja bei der Bundestagswahl der prognostizierte Triumph des bürgerlichen Lagers aus, im Gegenteil, die Linke erhielt eine Mehrheit. Wie weit glauben Sie, sind solche Begriffe wie Eigenverantwortung, Leistungsbereitschaft wirklich konsensfähig beziehungsweise schon in der Gesellschaft auch wirklich angekommen?

Nolte: Ich glaube, ein großer Teil davon ist schon angekommen oder wird gespürt, es ist auch nicht eine Bewegung oder ein Gefühl, nicht ein Umschwung, der sich auf die klassischen politischen Lager so 1:1 abbilden ließe. Es gibt ja auch in der SPD zum Beispiel oder erst recht bei den Grünen, als einer - darüber ist ja auch viel gesprochen worden in den letzten Jahren - als einer sehr bürgerlichen Partei im Grunde, solche Suchen nach mehr Eigenverantwortung, Fragen daran, was kann, soll der Staat noch machen, sollten die Bürger wieder auch in ihrem eigenen Interesse wieder stärker in die Verantwortung gehen. Also das sind ja, gerade was die großen Volksparteien angeht, CDU und CSU, sind das eher so Linien, die durch beide großen Parteien durchlaufen als eine Suche nach neuen Orientierungsmustern.

König: Kann es nicht sein, dass es auch einfach ein ganz normaler historischer Vorgang ist? Vor 20 Jahren wollte niemand bürgerlich sein, heute ist das überhaupt kein Problem, im Gegenteil, niemand will un- oder antibürgerlich sein, das Betreiben von Salons steht hoch in Mode, schon 30-Jährige, wenn sie es sich denn leisten können, sammeln moderne Kunst. Ist das nicht auch vielleicht ein ganz normaler Vorgang?

Nolte: Na ja, also sicher, es sind immer so ein bisschen auch Zyklen, Konjunkturen, das Auf und Ab, das ist aber auch gar nichts, was mit dem Verlust oder der Wiedergewinnung von Bürgerlichkeit zu tun hat sondern im Grunde ist das auch ein Merkmal des Bürgerlichen Zeitalters und ein Merkmal des Bürgerlichen überhaupt, die Fähigkeit zur Selbstkritik.

Bürgerlichkeit würde ich gar nicht verstehen wollen als etwas Behäbiges oder Staatstragendes so in diesem konventionellen und vielleicht etwas angestaubten Sinne, sondern bürgerlich ist ja gerade die Fähigkeit, sich selbst auch radikal in Zweifel zu stellen. Insofern sind ja auch die 68er in manchem ja die radikalsten Bürger gewesen, indem sie die radikalsten anarchischen Fragen auch in einem weiteren Sinne an sich selbst gestellt haben.

Heute schlägt das Pendel, das ist schon richtig, ein bisschen auch in die andere Richtung. Wir vergewissern uns auch wieder und fragen uns: Was sind die Werte im Bürgerlichen, die nicht nur uns erlauben, uns radikal in Frage zu stellen, sondern die uns auch erlauben uns Halt zu geben, uns Versicherung in einer unsicheren Welt zu geben, auch die uns über unsere eigene Herkunft vergewissern angesichts einer Konkurrenz von anderen Wertsystemen. Wie halten wir es angesichts von entstehenden Modernen in China mit unserem eigenen Wertesystem, wie halten wir es angesichts des Islam und eines politischen Islam mit unserem eigenen Wertesystem, es gibt ja auch Fragen, die häufig auch an Religion, christliche Überlieferung gestellt werden, aber die eben auch etwas mit der säkularen Kultur und da eben ganz stark mit Bürgerlichkeit zu tun haben.

König: Der Kritiker Gustav Seibt sagt, das sei alles nur ein Spiel, ein Bürgerlichkeitsspiel, eine Retro-Bewegung, diese neue Bürgerlichkeit, die gehöre einfach zur reichen Angebotspalette ästhetisierter Lebensstile. Was sagen Sie dazu?

Nolte: Ich sage dazu, dass Gustav Seibt natürlich ein Bürger par excellence ist, der sicherlich, wenn man ihm begegnen würde, den meisten Menschen bürgerlicher erscheinen würde, als ich selber äußerlich erscheinen würde oder vielleicht auch in dem, was ich sage. Also, das ist auch ein Stück Infragestellung aus der Selbstverständlichkeit des klassischen Bildungsbürgers, wie Seibt ihn auch darstellt.

Man muss aufpassen, dass es kein Spiel wird, das ist schon richtig so, so weit ist dieser Hinweis schon berechtigt und dass wir darauf achten, was wird daran denn praktisch, was ist mehr als ein Zitat, schaffen wir es denn mal, nicht nur über Ehrenamt, bürgerschaftliches Engagement zu reden, sondern verändern wir da etwas in unseren Verhaltensformen, gibt es da eine größere Bereitschaft von Menschen, sich zu engagieren oder Stiftungskulturen zu machen, sammeln wir Kunst nicht nur für uns selber, sondern wird das auch irgendwo praktisch in Bereichen, von denen auch andere profitieren. Also diese Selbstgenügsamkeit wäre nie das Ziel von guter Bürgerlichkeit, sondern ein Mehrwert für Dritte, der da erkennbar sein sollte.

König: Bedeutet die neue Bürgerlichkeit auch Rückkehr zur Klassengesellschaft mit neuen Schichten oder alten Schichten?

Nolte: Ja, also das ist ein schwieriges Thema und eine zweiseitige Medaille ganz sicherlich, die Tatsache, dass wir darüber sprechen, hat auch etwas damit zu tun, dass wir erkennen, was auch die andere Seite von Bürgerlichkeit sein kann, auch, ja nehmen Sie das Stichwort Vernachlässigung oder soziale Verwahrlosung, über das wir jetzt auch aus gegebenem Anlass häufig gesprochen haben. Da erkennen wir eigentlich, was ist das Antibürgerliche oder das, was die Konsequenz aus dem Verlust von Bürgerlichkeit. Das Ziel, dann darüber zu sprechen, sollte allerdings nicht sein, sich dann auf ein Podest zu stellen und zu sagen: zum Glück kann ich ja meine Kinder erziehen und die da können es nicht, also nicht das Ziel des Dünkelhaften, sondern das Ziel, dann möglichst viele Menschen auch in diese wohlverstandene Bürgerlichkeit auch einbeziehen zu können. Möglichst vielen Menschen eine solche selbstständige Lebensführung, um noch mal das Stichwort vom Anfang aufzugreifen, zu ermöglichen in diesem weiteren Sinne.
Mehr zum Thema