Sechs Brüste für Teddy
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1969 provozierten Studentinnen Theodor Adorno im Hörsaal mit entblößten Brüsten. Manche 68er schämen sich heute dafür. In der gesprengten Vorlesung steckt aber etwas anderes, meint Heide Oestreich: ein emanzipatorischer Akt 50 Jahre vor #Metoo.
"Wer nur den lieben Adorno lässt walten, der wird den Kapitalismus sein Leben lang behalten." Herbe Enttäuschung spricht aus diesen Worten, die 1969 an der Hörsaal-Tafel des soziologischen Instituts in Frankfurt am Main prangen. Es ist Revolte, doch Adorno geht nicht hin. Die Frankfurter Studis streiken, besetzen die Institute, sprengen Vorlesungen. Und nun ist Adorno dran: Selbstkritik soll er üben für den Verrat an der Bewegung, denn er hat das besetzte Institut für Soziologie kurzerhand von der Polizei räumen lassen. Gerade er, der ihnen das entfremdete Leben im Kapitalismus und die repressive Funktion des Staates erst nahe gebracht hatte! Jetzt, da sie den Aufstand wagen, erweist sich ihr Theoriegott als Konterrevolutionär.
Adorno hielt wenig von der Revolte. Seine Theorie von der Totalität der kapitalistischen Vergesellschaftung beinhaltete auch, dass wir in diesem System zur Freiheit leider nicht fähig sind. Sein berühmtester Satz "Es gibt kein wahres Leben im falschen" war von einer Erkenntnis mittlerweile zu einem Hindernis geworden. Jedenfalls für die jungen Leute, die sich mit derlei Fatalismus nicht abfinden wollten.
Adorno dagegen hatte sich gemütlich eingerichtet im falschen Leben, das er so genau seziert hatte: Er lebte als intellektueller Patriarch, im Institut wie auch daheim. Mit ausgebeuteter Gattin, die ihm sein Hauptwerk, die "Dialektik der Aufklärung", zusammengeschrieben hatte. Mit wechselnden Geliebten und Prostituierten. Aus dem Polizeieinsatz war den Revoltierenden die Erkenntnis zugewachsen, dass Adornos Attentismus auch eine Art Praxis war, eine tendenziell reaktionäre.
Unter allgemeiner Heiterkeit ergriff er die Flucht
Und hier kommen nun Brüste ins Spiel. Drei Paar von ihnen tanzten an jenem Apriltag im Jahr 1969 plötzlich um den Kopf des armen Adorno (der die Selbstkritik natürlich verweigert hatte). Die dazugehörigen Studentinnen ließen Küsse und Blüten auf ihn niederregnen - bis er unter allgemeiner Heiterkeit die Flucht ergriff.
Ausgerechnet Brüste. Brüste kann man eigentlich nur dialektisch betrachten, insofern ist Adorno geradezu ein Spezialist für diese delikaten Körperteile. Sie sind natürlicher Leib, etwas Vorgesellschaftliches, und das ist bei Adorno immer auch das Reich der Freiheit. Aber die Natur kann eben auch schrecklich und verschlingend sein. Sie wird deshalb domestiziert - und zur Ware. Analog wird der Zugang zum Busen reglementiert, zum Tauschmittel der Frauen, und im Bordell ebenfalls zur Ware. Dieser Doppelcharakter des Busens hat Adorno nicht nur theoretisch beschäftigt.
Die Dialektik der Dinger studierte er, indem er seinen gelehrten Blick ausgiebig auf denselben ruhen ließ, heißt es von Zeitzeugen. Und der Fetischisierung des weiblichen Körpers kommt man natürlich am besten im Bordell auf die Spur. Adorno hat hier zahlreiche Selbstversuche gemacht. Und nun dies: Sein Studienobjekt macht sich selbstständig. Der Busen wird quasi Subjekt und treibt Schabernack mit ihm!
Urszene der sich selbst ermächtigenden Frau
Wenig später ist Adorno tot. Gestorben am Busen - der Natur: nach einer anstrengenden Bergwanderung erleidet er eine tödliche Herzattacke. Dem Zwischenfall an der Uni wächst nun plötzlich die Bedeutung des letzten Auftritts eines Großgenies zu. Da ist sie, die dunkle Seite der Brust. Die wilden Frauen haben per Busenattentat den kritischen Geist zur Strecke gebracht.
Ach ja. Natürlich war der kritische Theoretiker Adorno kein besonders geeignetes Ziel für eine emanzipatorische Performance. Doch müssen die Akteurinnen von damals heute ihre Scham über die Aktion kundtun?
Feminstisch betrachtet könnte der Auftritt der nackten Busen eine Urszene der sich selbst ermächtigenden Frau sein. 50 Jahre vor #MeToo vertreiben zum ersten Mal sechs Brüste einen Patriarchen vom Katheder! Es ist Zeit, den 22. April 1969 im Hörsaal VI der Frankfurter Goethe-Universität neu zu lesen.
Rest in Peace, Teddy.