"Das Buch Hitler"

Rezensiert von Karin Schorsch |
Die Erinnerungen von Hitlers Sekretärin Traudl Junge, der Dokumentarfilm von André Heller und schließlich der Spielfilm "Der Untergang" sahen uns im vergangenen Jahr plötzlich als "Eingeweihte" in die Banalität des Bösen im Leben eines unmenschlichen Menschen. Das "Buch Hitler" wurde in den Jahren 1948 und 49 für einen einzigen Leser geschrieben: Josef Wissarionowitsch Stalin.
Stalin bezweifelte Hitlers Selbstmord, glaubte vielmehr an dessen Flucht und an ein geheim gehaltenes Asyl. Die Ermittlungen in dieser Sache befriedigten ihn ganz und gar nicht. Also erhielt der Geheimdienst NKWD Ende 1945 den Auftrag, die letzten Tage Hitlers im Bunker unter der Reichskanzlei zu rekonstruieren und Hitlers Tod zu beweisen. So kam die "Operation Mythos" in Gang, und zwei persönliche Adjutanten Hitlers, Heinz Linge und Otto Günsche, wurden zu Kronzeugen.

Die beiden SS-Offiziere befanden sich seit dem 2. Mai 1945 in sowjetischer Gefangenschaft und wurden nun dem NKWD überstellt. Notizen aus immer neuen Verhören, konfrontiert mit den Berichten eigens eingeschleuster Zellenspitzel, sowie eigene Aufzeichnungen der beiden Häftlinge füllten im Laufe von vier Jahren 413 Schreibmaschinenseiten: Das war das "Buch Hitler". Und es ging schon längst nicht mehr nur um den Todesbeweis. Das Psychogramm eines Diktators zur Anschauung für einen zweiten war entstanden.

Der Direktor des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin, Horst Möller, resümiert in seinem ordnenden Vorwort: "Von zahlreichen aufschlussreichen Details abgesehen, handelt es sich bei dem 'Buch Hitler' wohl um den einzigen, durch monatelange Verhöre des Geheimdienstes erstellten biographischen Text, der für beide, Stalin und Hitler, aussagekräftig ist, übrigens auch für das, was offenbar bewusst ausgelassen wurde: den Hitler-Stalin-Pakt vom August 1939, den Anfang vom Ende der direkten politischen Beziehungen beider Diktatoren."

Aber hat Stalin das eigens für ihn erstellte Dossier tatsächlich auch gelesen? Er hat, meint der russische Gutachter, Oberst Wladimir Chaustow, der das Originalexemplar im Archiv des russischen Präsidenten anschauen durfte. Das durften die deutschen Historiker nicht, denn es liegt bis heute unter Verschluss, ohne Randbemerkungen, aber mit Unterstreichungen, sagt Professor Chaustow. Er leitet das Institut für Vaterländische Geschichte bei der Akademie der Wissenschaften in Moskau und ist Mitglied im Föderalen Sicherheitsrat Russlands.

Stalin selbst hatte das "Buch Hitler" einst zu seinen persönlichen Akten genommen. Dennoch gibt es eine Kopie. Die fand nun - fast 60 Jahre später - und beinahe nebenbei Matthias Uhl, einer der beiden Herausgeber, beim Durchforsten der Archivbestände im Moskauer Institut für Zeitgeschichte für ein deutsch-russisches Forschungsprojekt.

Chruschtschow hatte diese Kopie 1959 anfertigen lassen und Teile daraus einigen ausgewählten Parteihistorikern zugänglich gemacht. Aber was sie da zu lesen bekamen, entsprach ganz und gar nicht der offiziellen sowjetischen Geschichtsschreibung, und die Kopie verschwand schnell wieder im Archiv.

Beim Lesen beschleicht einen der Verdacht, nicht nur die beiden deutschen Kronzeugen in der Hand des NKWD, auch die Geheimdienstleute selbst überbieten sich in immer neuen Ausschmückungen des banalen Alltags Hitlers und seiner engsten Umgebung, seiner Hinfälligkeit, der Aufputschmittel, die ihm angeblich täglich verabreicht werden, seiner spießigen Beziehung zu Eva Braun. Und wären nicht die akribischen erhellenden wie korrigierenden Anmerkungen der Herausgeber und der umfangreiche biographische Anhang sowie die Fülle von Literaturhinweisen, man sähe sich über weite Strecken in einem unsäglichen Klatschbuch gefangen.

Die von Möller im Vorwort erwähnten aufschlussreichen Details finden sich beispielsweise in den Berichten über die Lagebesprechungen Hitlers über den Kriegsverlauf. Das seien einzigartige Quellen, schreiben die Herausgeber im Nachwort, denn Protokolle gebe es nicht.

Die beiden Historiker Uhl und Eberle verweisen auf Hitlers ausdrückliches Interesse am Mord in der Gaskammer bzw. im Gaswagen. Im Frühjahr 1943 ließ er sich darüber informieren, wie sie sich in den besetzten Gebieten der Sowjetunion bewähren. "Er forderte Himmler auf", berichten seine Adjutanten Günsche und Linge, "mehr geschlossene Lastwagen mit mobilen Gaskammern zu verwenden, damit keine Munition, welche die Truppe nötig brauchte, für die Erschießung von Russen vergeudet werde."

Und ein anderes Detail: Hitlers Stellvertreter Rudolf Heß sei im Mai 1941 nicht in seinem Auftrag, ja sogar ohne Wissen Hitlers nach England geflogen, um die Möglichkeiten für Friedensverhandlungen zu sondieren. Hitler war über den Zeitpunkt nicht informiert worden, er wurde von der Nachricht aus dem Schlaf gerissen und reagierte entsprechend. Heß wurde zum Psychopathen erklärt, Martin Bormann zum neuen Hitler-Stellvertreter berufen, der Überbringer der Botschaft wurde verhaftet.

Henrik Eberle und Matthias Uhl (Hg.): "Das Buch Hitler"
Aus dem Russischen von Helmut Ettinger
Gustav Lübbe Verlag März 2005
672 Seiten
24,90 Euro