Das Buch Hiob als Geschichte

Hiob ist der Heilige der Zweifler, Mystiker und Atheisten. In seinem Gerichtsverfahren über seinen Schöpfer und Erhalter setzt er – immer auf Messers Schneide der Lästerung – eine Auseinandersetzung mit Gott in Gang, die bis heute andauert. Gott nimmt dem reichen und glücklichen, gerechten Hiob alles, was er liebt: Töchter, Frau, Kamele, Ziegen ...
Nach einer komplexen Beratung mit seinen tröstenden Freunden spricht er direkt mit JHWH, mit Gott. Schließlich besteht Hiob die Prüfung, und sein Glück wird wieder hergestellt.

Das theologische Problem, das dahinter steckt, wird seit dem Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz „Theodizee“ (Rechtfertigung Gottes) genannt. Die Frage ist: Wie kann Gott gerecht oder gnädig sein, wenn er tiefstes Leid und schlimmsten Schmerz zulässt? Wenn er die „Gottlosen gut leben“ lässt, wenn er seine „sadistische Fratze“ zeigt, wie Gerhard Kaiser schreibt?

Der Literaturwissenschaftler Kaiser und der Theologe Hans-Peter Mathys legen eine Studie vor, die ebenso bescheiden wie überzeugend erscheint: Der Literaturwissenschaftler gibt zwar einige Hinweise zur Rezeption des Buches Hiob, aber sein Ansatz ist ein „close reading“, eine fast voraussetzungslose Lektüre des Textes in seiner inneren Logik. Die notwendigen Zusammenhänge werden hergestellt – aber nur insofern sie dem direkten Verständnis dienen.

In einem kürzeren Schlusskapitel liefert der Alttestamentler Mathys die „harten Fakten“ zu Hiob auf dem heutigen Stand der Textkritik. Es handelt sich also um mehr als nur ein Einführungsbuch in die Hiob-Tradition. Es ist der Versuch, den Text als Geschichte zu würdigen – unverstellt durch die ungeheure Wirkungstradition des Buches.

Kaisers Text ist dicht, aber er versteht es, nicht nur die Hiob-Geschichte in ihrer dramaturgischen Spannung darzustellen. Seine Abhandlung selbst ist höchst spannend. Dass ein Christ die berühmte Hiob-Stelle: „Mein Anwalt (oder Freikäufer, Löser, Erlöser) lebt“ auf Christus bezogen sehen will – wie die Kirchenväter und Luther mit seiner epochalen Übersetzung –, mag man auch als Nicht-Christ dem begeisterten Hiob-Leser Kaiser gerne zugestehen.

Denn diese typologische Deutung Luthers (also eine Deutung nach der Regel, dass das gesamte Alte Testament durch die Neuen Testamente „erfüllt“ sei) verengt nicht wirklich den israelisch-messianischen Aspekt, der historisch natürlich etwas anderes ist, als es dann die Christusfigur sein wird.

Der Untertitel der Studie „Dichtung als Theologie“ ist zunächst irritierend, weil man denken könnte, hier ginge es um die Verweltlichung des biblischen Textes als Poesie. Das Gegenteil ist aber in Kaisers/Mathys‘ Buch der Fall. Dichtung ist schlicht der Modus des biblischen Textes, das Medium einer Reflexion – in Fall Hiob einer Reflexion auf die dunkle Seite Gottes.

Diese vibrierende Atmosphäre des inspirierten Lesens, diese ursprüngliche Frische der auslegenden Tätigkeit, bei aller philologischen und ideengeschichtlichen Sorgfalt – sie ist es, die Kaisers Essay und Mathys‘ Exkurs zur Textgeschichte zu einem Standardtext für alle Hiob-Fans werden lassen könnte.

Besprochen von Marius Meller

Gerhard Kaiser, Hans-Peter Mathys: Das Buch Hiob. Dichtung als Theologie
Verlag der Weltreligionen, Berlin 2010
211 Seiten, 14 Euro