"Das BIP ist immer mehr eine falsche Messung von Wachstum"

Henrik Enderlein im Gespräch mit Jan-Christoph Kitzler · 14.12.2010
Der Wirtschaftswissenschaftler Henrik Enderlein fordert eine neue Wachstumsdebatte. Die Messung des Bruttoinlandsproduktes (BIP) reiche nicht mehr aus und schaffe falsche Anreize für die Politik. Wichtig sei, wie Wachstum in der Gesellschaft verteilt sei.
Jan-Christoph Kitzler: Manchmal geht es ja um ganz eindeutige Fragen, aber manchmal hat die Politik auch ziemlich schwere Brocken vor sich. Der Bundestag zum Beispiel hat jetzt eine Enquete-Kommission eingesetzt, deren Titel allein schon schwindelig macht. Es geht um nichts weniger als um "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität, Wege zu nachhaltigem Wachstum und gesellschaftlichem Fortschritt in der sozialen Marktwirtschaft". Kurz gesagt: Da wird an einer alten Weisheit gerüttelt, nämlich dass das Wachstum an sich etwas Gutes sei. In allen Parteien macht sich so langsam aber sicher die Überzeugung breit, dass die alten Messungen von Wachstum nicht mehr ausreichen und dass sie zu wenig aussagen darüber, wie es um unser Land wirklich steht und wie gut es den Menschen hier geht.

Darüber spreche ich jetzt mit Henrik Enderlein, er ist Professor für politische Ökonomie an der Berliner Hertie School of Governance und auch als Sachverständiger Mitglied der Enquete-Kommission. Guten Morgen!

Henrik Enderlein: Guten Morgen!

Kitzler: Ich habe noch Wirtschaftsminister Rainer Brüderle im Ohr, der sich in diesem Herbst gefreut hat über das XL-Wachstum in Deutschland. Freuen Sie sich auch darüber?

Enderlein: Natürlich freue ich mich über XL-Wachstum, aber ich glaube, wir müssen die Frage stellen, welche Art Wachstum wir wollen. Sehen Sie, es geht auch in dieser Enquete-Kommission nicht darum, dass wir plötzlich kein Wachstum mehr wollen und alle nur noch im Wald am Lagerfeuer sitzen wollen, ohne Elektrizität und ohne Fortschritt. Es geht vielmehr darum: Messen wir mit dem, was wir heute Wachstum nennen, denn die richtigen Dinge? Wenn der Bundeswirtschaftsminister von XXL-Wachstum redet, dieses Wachstum aber nicht bei den Menschen ankommt, dann ist es ja vielleicht nur eine Luftbuchung in irgendeiner Bankbilanz, die die Menschen am Ende aber nicht erreicht.

Und dieses Gefühl entsteht bei vielen Menschen, bei uns Wissenschaftlern genauso, dass wir mit der Messung über das Bruttoinlandsprodukt, das berühmte BIP, nicht mehr das sehen, was wir eigentlich sehen wollen, und deshalb vielleicht auch die falschen Anreize für die Politik und die Steuerung der Gesellschaft schaffen.

Kitzler: Die Kritik, die Sie jetzt einwenden, die ist ja nicht ganz neu. Der Club of Rome hat schon vor 38 Jahren die Grenzen des Wachstums beschrieben, und trotzdem ist zum Beispiel das Bruttoinlandsprodukt, was Sie ansprechen, immer noch eine unantastbare Größe. Warum sollte sich das jetzt ändern?

Enderlein: Ich will mal ein Beispiel nennen. Wenn zwei Autos einen Unfall haben, das ist bekannt, dann entsteht dadurch eine Steigerung des Bruttoinlandsprodukts, weil plötzlich zwei Autos kaputt sind und ersetzt werden müssen. Wenn eine Bank ihre Bankbilanzen aufbläht, dann entsteht dadurch auch Bruttoinlandsproduktwachstum, ohne dass es Menschen erreicht.

Wir haben in der Krise etwas ganz Erstaunliches gesehen. Als das Krisenjahr 2009 mit einem nie da gewesenen Einbruch des Wirtschaftswachstums um ungefähr 5 Prozent über Deutschland niederging, merkten viele Menschen gar nicht, dass diese Krise sie real betraf. Das hat damit zu tun, dass sowohl in den guten, aber auch in den schlechten Zeiten diese immensen BIP-Veränderungen die Menschen gar nicht mehr tangierten, denn das BIP ist immer mehr eine falsche Messung von Wachstum, die uns nicht das berichtet, was uns als Politiker oder als Beobachter des politischen Prozesses tatsächlich interessieren sollte.

Mich interessiert: wie ist denn Wachstum verteilt, wo kommt Wachstum an, was kann man tun, um die Leistungen, die in der Gesellschaft erbracht werden, tatsächlich auch richtig zu messen und zu verstehen? Was ist mit ehrenamtlichem Engagement? Wenn ich mich um meine alten Eltern kümmere, dann wird das nicht im BIP verzeichnet. Wenn ich dafür jemanden einstelle, steigert das plötzlich das Bruttoinlandsprodukt. Das sind alles Fragen, mit denen wir umgehen müssen, und deshalb ist diese Kommission auch ein sehr wichtiger Beitrag zur Gesellschaftspolitik in Deutschland.

Kitzler: Sie sprechen da viele neue Faktoren an, die mit beitragen sollen, um wirtschaftliche Entwicklung anders zu messen. Sind das am Ende denn noch harte Zahlen, die dabei herauskommen?

Enderlein: Ich glaube nicht, dass wir das BIP loswerden. Ich glaube auch nicht, dass es sinnvoll wäre, das BIP loszuwerden. Aber das BIP sagt uns nur sehr, sehr wenig. Es sagt uns nicht, welches Wachstum bei den Menschen ankommt, wie das Wachstum verteilt ist. Es sagt uns nicht, wen wir vielleicht stärker belasten können oder weniger stark belasten können. Es sagt uns nicht, wie nachhaltig das Wachstum ist, denn teilweise ist Bruttoinlandsprodukt ja auch nur dadurch entstanden, weil man endliche Ressourcen massiv einfach heute verschleudert und nicht dafür sorgt, dass sie morgen auch noch für uns da sind.

Bildung zum Beispiel ist ein Wachstumsfaktor, aber in Bildung muss man investieren. Wenn wir heute keine Kinder mehr in die Schule schicken würden, sondern sie alle in Fabriken stecken würden, dann würde unser BIP nächstes Jahr höher sein, aber in Zukunft natürlich viel niedriger.

Ich glaube einfach, wir brauchen neue Messzahlen, die das BIP ergänzen, das BIP wird bleiben, aber wir brauchen neue Kennzahlen, die Fortschritt besser messen, die ehrenamtliches Engagement besser messen, die messen, wo das Wachstum tatsächlich ankommt.

Kitzler: Und hätten diese neuen Messzahlen dann auch große Auswirkung auf die Politik?

Enderlein: Das muss man hoffen. Ich gebe mal zwei Beispiele. Wir messen unser berühmtes Haushaltsdefizit mit den Maastrichtkriterien doch immer als Anteil am Bruttoinlandsprodukt. Wenn das Bruttoinlandsprodukt nicht mehr die Messgröße ist, haben wir plötzlich ganz andere Zahlen oder Möglichkeiten vor uns. Ich will damit nicht sagen, dass wir mehr Geld ausgeben; ich bin der letzte, der das fordert. Aber ich will einfach, dass unsere Anreizsysteme sich verändern.

Stellen Sie sich vor, wir würden jetzt in Bildung investieren. Heute redet man zu viel über Bildungsausgaben oder auch Sozialausgaben. Für mich ist von großer Bedeutung, dass Ausgaben auch oft Investitionen sein können, dass man diese Investitionen dann aber auch ablesen muss.

Was ist denn der gesellschaftliche Wert von Geschlossenheit in der Gesellschaft, oder von Solidarität, oder auch von einer offenen toleranten Gesellschaft? Wir wissen alle: wenn das nicht mehr besteht, dann würde das unserer Gesellschaft nicht gut tun. Aber wir können den monetären Gegenwert trotzdem nicht richtig messen und sagen dann immer, das was wir in Kultur stecken, oder das was wir meinetwegen auch in Sozialausgaben stecken, das ist doch eigentlich verlorenes Geld, und das kann keine intelligente Wirtschaftspolitik sein.

Es geht darum, ein Wachstum zu erlauben, das den Menschen dient und das die Menschen auch erreicht. Das setzt aber voraus – und Sie sprechen hier nicht mit einem Politiker oder einem Sozialphilosophen, sondern mit einem Wirtschaftswissenschaftler -, dass wir wissen, was dieses Wachstum ist, und dass wir es messen können.

Aber wir haben die Zahlen nicht, wir brauchen sie und ich glaube, gerade im Anschluss an die Finanzmarktkrise ist uns deutlich geworden, dass man eben nicht das Bruttoinlandsprodukt durch die Steigerung von Bankbilanzen erhöhen sollte, sondern dass man sich eher überlegen sollte, wo entsteht gesellschaftlicher Fortschritt, wo wird nachhaltiges Wachstum geschaffen, und dann will ich eine Bundesregierung dafür belohnen, dass sie dieses Wachstum fördert und kein Luftbuchungswachstum.

Kitzler: Wie kann man Wachstum neu bestimmen und neu vermessen? Darüber sprach ich mit Henrik Enderlein, Professor an der Berliner Hertie School of Governance. Vielen Dank dafür.

Enderlein: Danke schön.