Das Bildgedächtnis Israels

Von Ingrid von Saldern · 08.04.2011
Seine Bilder gingen um die Welt und wirken wie Ikonografien des modernen Israel, ob Sechstagekrieg, Libanonkrieg oder Fotos vom jüdischen Leben: Seit 1968 ist der israelische Fotograf Micha Bar-Am Mitglied der renommierten Agentur Magnum. Eine Ausstellung in Berlin zeigt jetzt seine bekanntesten Bilder.
Der Satz "Ich bin ein Berliner" würde ihm nicht über die vom weißen wallenden Vollbart gerahmten Lippen kommen – auch wenn Micha Bar-Am vor 81 Jahren in der deutschen Hauptstadt geboren wurde. Sein angenommener Name bedeutet "Sohn des Volkes" – und damit ist natürlich Israel gemeint. Als er sechs war, floh seine Familie vor den Nazis nach Palästina, und mit neugierigen Augen nahm der junge Micha alles Fremde auf, lernte die Sprachen Ivrit und Arabisch, gewann arabische Freunde: Die Freundschaft zwischen den Familien besteht bis heute.

Er kämpfte im Unabhängigkeitskrieg, war Mitbegründer eines Kibbuz und fotografierte Szenen aus dem Leben dort; mit der Kamera begleitete er die Ausgrabung der Schriftrollen von Qumran: alles Schritte auf dem Weg zum Heimischwerden - und zum Berufsfotografen. Keine formale Ausbildung, sondern Magazine wie das "Life Magazine" und die "Picture Post" oder "London Illustrated", die Verwandte aus England und Amerika schickten, haben schon früh Micha Bar-Ams Blick geschult.
"Diese Art von lebendiger Fotografie, Reportagen, Essays und einige wichtige Fotografen wie zum Beispiel Robert Capa und andere hab ich ziemlich jung schon über die Seiten von den Magazinen gesehen. Und es hat mich bestimmt sehr beeindruckt und vielleicht hat das zu tun mit dem späteren Entschluss, ein Fotograf, Vollzeitfotograf zu werden. "

1998 erschien zum 50-jährigen Bestehen Israels sein großer Fotoband, folgerichtig betitelt: "Israel - a Photobiography. Die Kapitel darin sind zumeist den Kriegen zugeordnet: dem Sinai-Feldzug, dem Sechstagekrieg, dem Libanonkrieg, dem Yom-Kippur-Krieg – die Bilder auch in der Berliner Ausstellung zu sehen: Ägyptische Soldaten, die sich mit erhobenen Händen ergeben; Gefangene, die Augen verbunden, die Hände auf dem Rücken gefesselt, mit bloßen Füßen, sitzen sie in der Steinwüste und erwarten – was?

General Ariel Sharon mit Kopfverband und Verteidigungsminister Moshe Dayan mit Augenklappe freuen sich über die Wende im Yom-Kippur-Krieg. Allerdings war es nie die Absicht Micha Bar-Ams, als Kriegsfotograf bekannt zu werden:

"Auf jeden Fall ist es so passiert, weil Leute dramatische Fotos von Kriegen sehr gerne haben, um zu wissen, dass sie das nicht sind dort, es passiert irgendwo anderen Leuten. Wenn wir jetzt aber über Israel sprechen, wo ich die meisten Kriege fotografiert habe, ob das auch in Ägypten oder Jordanien oder im Libanon war – es war immer im Zusammenhang mit dem Hintergrund von meinem eigenen Leben, in dem Land, in dem ich lebe. Obwohl ich auch in Vietnam fotografiert habe. Aber hier ist es etwas anderes: es ist mein Hinterhof sozusagen."

Die Menschen, die Micha Bar-Am in diesem seinem "Hinterhof" beobachtet, immer mit Wärme, immer mit Empathie, zeigen – im Buch wie in der Berliner Ausstellung - die Brüche, die so charakteristisch sind für das Land: Ball spielende Kinder am Unabhängigkeitstag im Park in Jerusalem, im Vordergrund ein Mann am Grill, lässig in Unterhemd & Jeans – in seinem Gürtel steckt eine Pistole. Schwarz gewandete Drusinnen mit großen weißen Kopftüchern, hinter dem Stacheldrahtzaun auf den Golanhöhen: eine alte Frau ruft verzweifelt durch ein Megafon – ob ihre Verwandten sie hören – in Syrien? - Eine Wand voller Namen – Hände, die die Reihen absuchen, ein Unterarm mit eintätowierter KZ-Nummer: die Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem. - Ein Paar tanzt auf dem Kneipentisch: er hat die Hand weit unter ihren Rock geschoben – die Köpfe der beiden sind nicht im Bild, doch man sieht, dass sie schon länger nicht mehr jung sind.

Im Jahr 2000 erhielt der Autodidakt Micha Bar-Am den Israel-Preis für sein künstlerisches Lebenswerk, die höchste kulturelle Auszeichnung des Landes, dem er sich so verbunden fühlt und dessen Stimmungen er mit seinen – zumeist schwarz-weißen –Bildern festhält: die Zerrissenheit, die Sehnsucht nach Normalität, die Absurdität des Krieges, die ständig sich verändernde Gesellschaft, menschliche Wärme und absurden Hass.

Thema und Atmosphäre sind ihm mindestens genauso wichtig wie der von Cartier-Bresson beschworene "moment décisif", der entscheidende Augenblick:

"Selbstverständlich muss ein Fotograf ein intuitives gutes Gefühl haben für den richtigen Moment und ich will keine Ideologie machen nur aus dem Moment in der Fotografie."
Einmal jedenfalls hat er den entscheidenden Augenblick verpasst: 1961in Jerusalem im Gerichtstribunal gegen Adolf Eichmann, den Verantwortlichen für die sogenannte "Lösung der Judenfrage", war Micha Bar-Am einer der Dokumentaristen

"Und als er sagte: 'Im Sinne der Anklage: nicht schuldig' – dann hat mein Herz aufgehört für einen Klick und ich hab dieses Bild nicht geknipst, es ist auch nicht wichtig als Foto, aber es ist wichtig als ein Moment, das ich sehr zu Herzen genommen habe."

Seit den 60er-Jahren besucht Micha Bar-Am, dessen einer Sohn als Künstler in Berlin lebt, immer wieder das Land seiner Geburt – und es fällt ihm, wie vielen Israelis, leichter mit der jüngeren Generation zu kommunizieren:

"Ich bin sehr beeindruckt, aber irgendwie ist es immer noch im Hintergrund für Deutsche und Israelis, was einmal geschah. Ich versuche, nicht über alles zu denken. Man muss nicht vergessen, aber man muss nicht immer in die Vergangenheit gehen und man muss auch etwas für die Zukunft lassen."
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