Das Bild ist sehr "einseitig und verengt"

Moderation: Ulrike Timm |
Der Berliner Hauptschul-Referent Siegfried Arnz hat den Medien eine einseitige und verengte Darstellung der Zustände an der Rütli-Hauptschule vorgeworfen. Es gebe zwar Gewalt an der Schule, aber ebenso gebe es ein "wirkliches Lernklima", sagte Arnz. Zugleich räumte er ein, dass die Signale aus der Lehrerschaft frührer Reaktionen erfordert hätten. Den Zuständen an derartigen Brennpunktschulen müsse man mit einem Bündel von Maßnahmen begegnen.
Timm: Das klang doch alles ganz gut, was da heute Morgen an Tönen aus der Rütli-Schule in Berlin-Neukölln kam, kann natürlich auch eine Gegenbewegung sein. Wenn so viel Schlechtes über eine Schule geschrieben wird, dann muss man sich ja auch verteidigen. Was steckt dahinter? Heute Morgen jedenfalls war Berlins Schulsenator Böger in der Rütli-Schule, gemeinsam mit seinem Hauptschul-Referenten Siegfried Arnz. Herr Arnz ist jetzt bei uns am Telefon, er ist noch in der Rütli-Schule, die Veranstaltung ist gerade erst vorbei. Was war das denn jetzt? Kriegsrat oder schon Friedensverhandlungen? Oder eine Session?

Arnz: Nein, nein, nein. Das war natürlich gar keine Session, sondern es war der Auftakt zu konkreter Veränderung in der Schule. Insofern waren es sowohl Friedensverhandlungen, es waren Botschaften und es war vor allem ein Ausdruck eines ganz entschiedenen Willens, den sowohl Senator Böger einerseits, aber auch - und das war für mich sehr beeindruckend - ich sage mal die Schulgemeinschaft hier zum Ausdruck gebracht hat. Die Schüleräußerungen, die Sie gerade zitiert haben, die habe ich in anderer Form sehr intensiv gerade eben in dem für mich bewegendsten Teil der heutigen gemeinsamen Veranstaltung mit dem Senator hier erlebt, nämlich in der Versammlung, die Herr Böger mit den Klassensprecherinnen und Klassensprechern der Schule durchgeführt hat. Und da ging es ganz deutlich darum, dass es das, was die Schule sozusagen an den Rand des Ruins bringt, ausgelöst wird natürlich von einem Teil der Schülerinnen und Schüler - und keinesfalls von der gesamten Schülerschaft.

Ein Teil der Schülerinnen und Schüler hält sich an keine Regeln, ein Teil der Schülerinnen und Schüler ist massiv gewalttätig, bedroht andere und macht all die Dinge, über die gesprochen wird. Aber es gibt auch ganz andere Dinge in dieser Schule. Ich bin in einem Klassenraum gewesen, der war ein wohl gestalteter, mit vielen ganz spannenden und auch auf gutem Niveau stattfindenden Arbeitsergebnissen. Das sprach von einem wirklichen Lernklima - was offensichtlich in dieser Schule auch stattfindet. Dann war für mich beeindruckend - gestern war ich schon hier -, dass es zum Beispiel in dem ganzen Gebäude gar kein Graffiti gibt. Das heißt, der ganze Eindruck ist sicherlich sozusagen auch aufgrund des Hilferufs - der seine große Berechtigung hat -, aufgrund des Hilferufs nun aber und in dem gesamten Medienecho natürlich sehr einseitig und verengt dargestellt worden.

Timm: Herr Arnz, das klingt sehr eindrucksvoll. Ein bisschen hatte ich das auch erwartet. Gestern stand man so dermaßen unter Beschuss, dass es eigentlich auch logisch ist, dass die Schüler, die sich nicht zu den Gewalttätern zählen, sagen wollen: Hier sind wir und wir sind anders. So überraschend finde ich das eigentlich gar nicht. Ist es nicht auch vielleicht darauf zurückzuführen, dass jetzt plötzlich, ganz plötzlich, alles ganz schnell gehen soll? Die Polizei kontrolliert auf Waffen; Montag kommen arabischsprachige Sozialpädagogen, die die Lehrer, glaube ich, seit Monaten, wenn nicht seit Jahren, gerne haben wollten. Jetzt wird ganz schnell die Gegenwelt inszeniert. Ist das nicht genauso unwirklich wie das Szenario, das manche Fernsehanstalten gestern zeigten?

Arnz: Ja, das ist natürlich so, dass da auch nur Ausschnitte sozusagen mit der Realität übereinstimmen. Ich fange an dem einfachsten Beispiel an: Der Sozialarbeiter arabischer Herkunft ist seit über einer Woche in der Schule tätig.

Timm: Er hätte aber länger schon da sein sollen.

Arnz: Ja, er ist seit über einer Woche in der Schule tätig. Das heißt, er ist nicht im Anschluss an das Medienecho tätig. Er ist nicht im Anschluss an das Medienecho tätig.

Timm: Aber die Lehrer hätten ihn - darüber sind wir uns glaube ich einig - schon sehr, sehr lange gebraucht ...

Arnz: Das ist völlig richtig. Und ich sage Ihnen ...

Timm:... sonst hätten sie diesen Brief ja nicht geschrieben.

Arnz: Ja, ich sage sehr deutlich und will da auch gar nicht drum herum reden: Es gibt sicherlich Signale, die frühere Reaktionen erfordert hätten. Aber ich sage auf der anderen Seite: Wir sind - und natürlich ist das auch meine Verantwortung seit einem Jahr - ich bin seit gut einem Jahr Referent in der Senatsverwaltung, habe vorher zehn Jahre eine Hauptschule geleitet, genau in einem Brennpunkt, mit ähnlich schwierigen Situationen ...

Timm: Deswegen haben wir Sie eigentlich ...

Arnz: Genau.

Timm:... auch eingeladen, Herr Arnz ...

Arnz: Ja. Ich möchte dazu ...

Timm:... Sie haben so eine Hauptschule geleitet, die sehr große Probleme hatte und wir möchten gerne wissen, wie haben Sie das gemacht?

Arnz: Genau, da sage ich Ihnen gleich was dazu. Ich will nur erst noch den Satz sagen, dass das, was passieren muss, wir insgesamt für die Hauptschulen in Berlin auf den Weg bringen. Wir haben ein Sozialarbeiterprogramm - was ja immerhin dann auch finanziert werden muss - auf den Weg gebracht, was gerade startet. Da wird übrigens die Schule hier einen zusätzlichen Sozialarbeiter daraus noch erhalten.

Wir haben insgesamt sehr intensive Fortbildungsangebote, die sich ganz gezielt an das richtet, welche Kompetenzen Lehrerinnen und Lehrer brauchen, um zum Beispiel - und ich nehme jetzt auch mal das Klischee auf - mit den arabischsprachigen Macho-Jungs umzugehen, die die Lehrerinnen und Lehrer an die Grenzen bringen, die keine Autorität akzeptieren wollen und Ähnliches. Da sind zum Teil auch neue Kompetenzen erforderlich, die wir entwickeln. Und ich will jetzt sagen - das ist mir besonders wichtig -, dass eine Voraussetzung für erfolgreiche Schule - und insbesondere natürlich in so einer Brennpunktschule - ist eine starke und aktiv handlungsfähige Schulleitung. Und hier hat es eben ein Problem gegeben, dass die Schulleiterin dieser Schule seit Anfang dieses Schuljahres erkrankt ist, es keinen Stellvertreter gibt und eine Gruppe des Kollegiums, zuletzt die dienstälteste Kollegin, bereit war, kommissarisch diese Aufgabe zu übernehmen. Das sind aber Kollegen, die sich weder jemals auf Schulleitungsaufgaben vorbereitet hatten noch jemals gesagt haben: Wir wollen Schulleiter oder Schulleiterin sein. Und deswegen haben wir jetzt entschieden - und ich finde, das ist eine beispielhafte Entscheidung und ich bin vor allem sehr froh, dass der Kollege das macht -, einen Schulleiter zu bitten - und er ist seit heute hier, der Leiter einer sehr erfolgreichen Berliner Hauptschule, dem gelungen ist, Konzepte mit seinem Kollegium zu entwickeln als Antwort -, der ist ab jetzt bis zu den Sommerferien hier eingesetzt sozusagen, um als Schulleiter die Krise mit dem Kollegium und den Schülern, mit den Eltern zu überwinden. Das heißt, eine Voraussetzung ist geschaffen. Und dieser Kollege, der jetzt heute hier ist, ist mit sehr großer Zufriedenheit und mit Erleichterung von Lehrkräften, von Eltern und auch von den Klassensprechern aufgenommen worden. Und jetzt geht es daran: Um was geht es? Was muss getan werden?

Timm: Na dann wird ja hoffentlich bald alles gut. Ich wünsche Ihnen viel Kraft und viel Glück auf dem Weg. Aber es gibt doch einen Vorlauf, der sehr bedenklich war, einen SOS-Brief der Lehrer. Wir haben Sie eingeladen, weil Sie sehr viel Hauptschulerfahrung haben. Sie haben zehn Jahre lang eine Hauptschule geleitet, in der es ziemlich drunter und drüber geht. Was haben Sie ganz praktisch, was haben Sie konkret dort getan, um dieses Klima zu verbessern?

Arnz: Drunter und drüber ging - nicht drunter und drüber geht. Und wir haben das getan - und ich zitiere jetzt einfach das, was Herr Hochstedt hier heute bereits gesagt hat, also der neue Schulleiter: Wir haben erstens insgesamt, in einem gemeinsamen Konzept mit Schülern, Eltern und Lehrern so etwas wie ein gemeinsames Verantwortungsnetz in der Schule entwickelt. Das heißt, wir haben die Schülersprecher zum Beispiel in ihrer Rolle ernst genommen. Das heißt, jedes Problem, das in der Schule auftritt, haben wir in allererster Linie und zunächst auf Lösungsideen mit den Schülern und Schülerinnen besprochen. Dies führt dazu, dass an der Lösung auch von Gewaltsituationen Schüler viel aktiver beteiligt sind - Streitschlichterprogramme gehören dazu.

Zweitens, wir haben den Unterricht verändert. In vielen Situationen erleben gerade Hauptschülerinnen und Hauptschüler, dass sie entweder über- oder unterfordert sind. Wir haben viele, wir haben eben auch in der Hauptschule - trotz des schwachen Lernniveaus - eine heterogene Schülerschaft und dem muss man Rechnung tragen. Das heißt, wenn man einen Schüler, der gleichzeitig schon Sozial- und Verhaltensprobleme mitbringt, langweiligen Unterricht vorsetzt, wo er zum Beispiel das Gefühl hat: Das kann ich ja schon alles, und man ihn nicht gewinnt und motiviert, auch an seinen Interessen anknüpfend, dann wird sozusagen Unterricht im Endeffekt nicht erfolgreich sein. Das heißt, hier Unterricht zu verändern, ist eine ganz wesentliche Aufgabe.

Drittens, man muss konkrete Betreuungssysteme schaffen in der Schule. In der Schule, die ich geleitet habe, haben wir seit zehn Jahren eine gut funktionierende Schulstation, in der Schüler, die aktuell nicht betreuungsfähig, nicht lernfähig sind - betreuungsfähig sind sie -, nicht lernfähig sind, weil sie einen massiven Konflikt von zu Hause mitbringen, weil sie einen massiven Schulkonflikt haben, aufgefangen werden, betreut werden, unterstützt werden. Dazu sind dann zum Beispiel Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen sehr gut. In der Schule, die ich geleitet habe, haben wir das über ein anderes Arbeitszeitmodell organisiert. Dann ist es sehr wichtig, in einer Schule Angebote zu schaffen, die die Schülerinnen und Schüler erreichen. Zum Beispiel Angebote in einem so genannten Wahlpflichtbereich, das heißt in einem Bereich, wo Schülerinnen und Schüler gemeinsam mit Lehrern ihren Interessen entsprechende Angebote entwickeln: im künstlerischen Bereich, im sportlichen Bereich. Dann kommt es darauf an, insgesamt in diesen ganzen Prozess so etwas wie Identifikation der Schülerinnen und Schüler mit ihrer Schule zu erreichen.

Und ich sage Ihnen jetzt ganz konkret: Dann kann es gelingen, dass auch die Rütli-Schule, die in dem Rütli-Kiez hier in Neukölln ansässig ist, sich wieder als attraktive Schule im Wohnkiez entwickelt. Denn hier sind ja gar nicht 100 oder 80 Prozent Migranten, die hier wohnen. Hier ist eine Wohnbevölkerung rund um die Schule mit zirka 50 Prozent Migranten.

Timm: Herr Arnz, das wollen wir hoffen, dass Ihr Programm wirkt, das wünsche ich Ihnen sehr. Trotzdem ist es ja so, dass derzeit an der Rütli-Schule 83 Prozent Migrantenkinder sind. Und der Politologe Stefan Luft meinte gestern in unserem Programm, Ihre ganzen schönen Maßnahmen würden wahrscheinlich nur dann wirken, wenn die Umgangssprache Deutsch werden kann, sprich: wenn der Anteil der Migrantenkinder prozentual zurückgeht. Er schlug vor, dass man zumindest einen Teil der Kinder in anderen Bezirken in Schulen schickt, ihnen andere Schulen anbietet, um an der konkreten Rütli-Schule den Prozentsatz der Migrantenkinder deutlich zu senken. Ich nehme an, Sie sind dagegen, aber ist das wirklich so eine schlechte Idee?

Arnz: Ich sage Ihnen das gleich, warum. Ich fange einfach mit den eigenen Erfahrungen an.1994 war an der Werner-Stephan-Oberschule in Tempelhof, die ich dann geleitet habe, ein Migrantenanteil, ein Ausländeranteil, von über 90 Prozent, 95 Prozent, in einem Wohnbezirk, in dem höchstens 40 oder 30 Prozent Ausländer leben. Wir haben nicht über den Weg des Busing das verändert, wir haben nicht, indem wir Schüler sozusagen in andere Bezirke verfrachtet haben, sondern wir haben durch Veränderung des Schulangebots uns für die umliegenden Grundschulen und Eltern attraktiv gemacht. Und das hat insgesamt fünf Jahre gedauert und seitdem gibt es dort eine totale Akzeptanz der Schule und die Eltern melden ihre Kinder an, wenn sie Hauptschulempfehlung haben. Die Schule hat mehr als doppelt so viele Anmeldungen, wie sie aufnehmen kann. Und das ist für mich der Weg. Die Schule muss sich attraktiv machen.

Zweitens: Was passiert, wenn dieser Weg, den Herr Luft angesprochen hat, realisiert wird? Wir würden Schüler und Schülerinnen mit Migrantenhintergrund - jetzt wahrscheinlich die besonders problematischen, die arabischen - in einen Bus setzen, morgens müssten die dann zum Beispiel an einer bestimmten Stelle erscheinen, in einen Bus einsteigen und - ich sage es jetzt mal als ein schönes Beispiel - nach Frohnau fahren. Erstens werden von diesen Schülern weniger als die Hälfte ankommen überhaupt am Bus, weil sie das gar nicht annehmen. Zweitens, wenn sie dann in Frohnau ankommen, kommen sie in eine Situation, die ihnen völlig fremd ist. Es setzt außerdem voraus, dass man ja in irgendeiner Weise umgekehrt Schüler aus Frohnau nach Neukölln transportieren ...

Timm: Und das wird niemand wollen.

Arnz: Das wird wirklich niemand wollen.

Timm: Siegfried Arnz, Hauptschulreferent des Berliner ...