Das Berliner Zeitungsviertel

Von Arne Reul · 13.12.2007
Das Berliner Zeitungsviertel. Es ist das vielleicht interessanteste Quartier deutscher Zeitungs- und Mediengeschichte. Im Areal zwischen der Koch- und der Leipziger Straße publizierten früher führende Blätter Deutschlands. Heute stehen sich dort der Springer-Verlag und die "taz" gegenüber. Interessante Blätter, aber doch nur ein Abglanz des einstigen traditionsreichen Zeitungsviertels.
Berlin-Mitte/Kreuzberg. Das Areal zwischen Koch-, Rudi-Dutscke-Straße und Leipziger Straße, Friedrichstraße und Axel-Springer-Straße markiert heute das ehemalige Berliner Zeitungsviertel. Hier fand Geschichte statt – im Januar 1919 toben Kämpfe zwischen bewaffneten Demonstranten und Noske-Truppen. Spätere Stichworte sind Checkpoint Charlie und Mauer.

Und am Platz wurde Geschichte geschrieben – Verlagsimperien von Mosse bis Ullstein, Schreiber wie Kerr und Tucholsky sorgten für Zeitungen und Meinungskampf. Zwischen 1900 und 1930 galt das Zeitungsviertel als der größte Presseplatz der Welt. Berlin hatte seine Kochstraße, London seine Fleet Street.

Der Kiosk an der U-Bahn bietet "Internationale Presse". Auch die Berliner "tageszeitung", besser bekannt als "taz", ist im Angebot. Am 27. November 2007 berichtet sie über eine Tagung des Internationalen Kunstkritikerverbandes.

"Erfolgreiche Künstler werden zunehmend wie Celebrities gehandelt, Kunstkritiker leben dagegen oftmals in prekären Verhältnissen. Führt die Kommerzialisierung des gesamten Feldes der Kunst zu einem Verfall der Kunstkritik?"

Die "taz" und Springer arbeiten auf historischem Boden. Geschrieben, gedruckt und ausgeliefert wurden dort legendäre Blätter wie die "Vossische Zeitung", das "Berliner Tageblatt" und der "Berliner Lokal Anzeiger". Der Geist des Ortes prägte die Feuilletons in Deutschlands Gründerzeit und der Weimarer Republik. Das ist lange her.

Kapitel 1 – Die Geschichte beginnt woanders

Die Geschichte des ehemaligen Berliner Zeitungsviertels ist ohne seine Vorgeschichte nicht denkbar, führt ins Preußen des 18. Jahrhunderts. Friedrich Wilhelm I., der Soldatenkönig, stabilisiert das Land politisch; Sohn Friedrich der Große bringt ihm die Pressefreiheit. Quasi in seiner ersten Amtshandlung, 1740.

"Seine Königl. Mayestät haben befohlen, dass dem hiesigen Berlinschen Zeitungs Schreiber eine unumbschränckte Freyheit gelassen werden soll zu schreiben was er will, ohne dass solches censiret werden soll, wie höchst Deroselben Worthe waren, dagegen aber auch frembde Ministri sich nicht würden beschweren können, wenn in den hiesigen Zeitungen hin undt wieder Paßagen anzutreffen, so Ihnen misfallen könnten."

Berlin ist auf dem Weg zu einer politischen und künstlerischen Metropole. Wissenschaftler und Künstler zieht es her, in der Stadt werden neue Zeitungen gegründet. Das Klima in Berlin ist gegensätzlicher Art: aufklärerisch und kleingeistig, beengend und kämpferisch.

Der andere wichtige Name der Vorgeschichte: Gotthold Ephraim Lessing. Ein Buchhändler hat dem Studenten die Mitarbeit an einer neuen Zeitung angeboten. Lessing sagt dem Blatt zu, dass schon bald als "Vossische Zeitung" Karriere macht. Die "Tante Voss" ist beliebt, vor allem wegen der Rubrik "Von gelehrten Sachen" – und die ist seit 1749 ganz von Lessings Geist geprägt:

"Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgendein Mensch ist oder zu sein vermeinet, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Wert des Menschen. Denn durch die Nachforschungen der Wahrheit erweitern sich seine Kräfte, worin allein seine immer wachsende Vollkommenheit besteht."

Lessing pflegt eine spitze Feder und gilt seit seiner Berliner Zeit als Begründer des modernen Feuilletons. Er verbindet journalistische Grundsätze mit seinem menschlichen Ideal; und Berlin mausert sich zum steinigen Pflaster der deutschen Aufklärung.

Geist, Macht und Geld prallen am Ort heftig aufeinander. Und das Volk hat die Möglichkeit - dank Zeitung - daran teilzunehmen. Man ist in Preußen unterrichtet, indes nicht uneingeschränkt, aber eine öffentliche Meinung kann sich herausbilden.

Die Nachfolger des Alten Fritz führen die Zensur wieder ein, aber klein beigeben wollen die Zeitungen nicht. Dann wächst eben Bedeutung und Umfang der "Gelehrten Sachen"! - also des Feuilletons. Die Berliner lassen sich - Zensur hin oder her - ihre Zeitungen nicht mehr wegnehmen. Und sie werden gebraucht! Zu keinem Zeitpunkt wird dies deutlicher als in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts. Die Zeitungen sichern nun das Überleben der Menschen des zur Metropole aufsteigenden Berlins.

Kapitel 2 – Macht, Geist, Stadt, Menschen

"Plötzlich erscheinen Zeitungsverkäufer, und im Nu verwandelt sich das bis dahin ruhige Straßenbild in ein wildes Chaos, als wenn es gälte Nachrichten zu erhalten von denen Tod und Leben abhängt. Und in der Tat hängt Tod und Leben zuweilen davon ab. Das beweist schon der Polizeibericht. Mann erschossen! Raubmord an Frau! Obdachloser Tod aufgefunden! Das ganze Elend der Großstadt ist in einem solchen Polizeibericht erzählt. Und die Leute, die das Blatt in ihrer Hand haben, fühlen ihre Angst sich verdoppeln. Es ist jener Anzeiger, in welchem die meisten Stellen für Köchinnen, Waschfrauen, Lehrlinge und Kellner angeboten werden."

Berlin wächst, explosionsartig. 100.000 Menschen strömen jährlich in die Stadt, suchen eine Anstellung, durchsuchen die Anzeigen in den Zeitungen. Eine gigantische Industrialisierung hat Berlin gepackt. Ende des 19. Jahrhunderts sind hier zehn Prozent der Unternehmen und Arbeiter ganz Deutschlands konzentriert. Es raucht, dampft und pfeift. Firmen werden gegründet und fördern wiederum die Gründung großer Banken und Aktiengesellschaften. Letztere bewegen in der Stadt ein Viertel des gesamten deutschen Kapitalwesens.

Die Rotationen laufen auf Hochtouren. Große neue Zeitungsverlage befriedigen den schier unstillbaren Hunger nach Information und Lektüre in der Millionenmetropole.

Der rechtskonservative August Scherl bestimmt mit seinem "Berliner-Lokal-Anzeiger" seit 1883 den Anzeigen- und Stellenmarkt und wird zum Multimillionär. Die Berliner spotten über seine Fahrten in Sonderzügen und über die Villen, die Scherl nach Belieben abreißen und neu aufbauen lässt.

Im Zeitungsviertel der Stadt etablieren sich allerdings zwei noch größere Presse-Giganten, deren Firmenkomplex in der Kochstraße jeweils einen ganzen Straßenzug vereinnahmt.

An der Spitze: Leopold Ullstein und dessen Söhne. Wo heute in der Kochstraße das Hochhaus der Berliner Wohnungsbaugesellschaft steht, befand sich früher der Ullstein-Komplex, der größte Zeitungsverlag Europas. 1877 startet der alte Ullstein mit der "Berliner Zeitung" sein erstes Blatt. Schon bald folgt mit der anspruchsvollen Berliner Morgenpost die auflagenstärkste Zeitung im Deutschen Reich. Und Ullsteins "B.Z. am Mittag" ist Anfang des 20. Jahrhunderts die schnellste Zeitung der Welt. Sie verfügt über eigene Korrespondenten in London, New York und Paris. Ein Zeppelinunglück in Johannisthal um 11 Uhr vormittags und schon um 10 nach 12 hat der Berliner in der "B.Z." die ausführliche Berichterstattung. Und das bei einer Auflage von 200.000!

Rudolf Mosse ist der dritte Zeitungsgigant im Pressequartier an der Kochstraße. Er erkennt seine publizistischen Fähigkeiten, als er in Leipzig der Massenzeitschrift "Die Gartenlaube" zum Erfolg verhilft. Von diesem Erfolg angestachelt, kommt er 1870 nach Berlin und gründet seinen eigenen Verlag. Bei Mosse erscheinen mehr als 100 Blätter. Auch er macht viel Geld im Anzeigengeschäft und kann damit - wie bei Ullstein - prestigeträchtige Zeitungen finanzieren. Mosses "Berliner Tageblatt" mauserte sich zum angesehenen Weltblatt.

Kapitel 3 – Die hohe Zeit des Feuilletons

Berlin brodelt, das kulturelle Leben schäumt. Bertolt Brecht entwickelt neue Theaterformen, Max Reinhardt dominiert die Bühnen mit spektakulären Regiekonzepten. Kabarett und Kino feiern eine ungeahnte Blüte. Aber die Kritiker in den Zeitungen erheischen noch mehr Aufmerksamkeit.

"Vor dem Beginn sah man vorne auf der einen Seite Alfred Kerr stehen, mit dem Gesicht zum Publikum. Der König der Kritiker zeigte sich seinem Volk. An der anderen Seite sammelte sich die Opposition unter der Führung von Herber Jhering. Es war bekannt, dass diesmal Jhering für, Kerr gegen den neuen Autor schreiben würde."

An Selbstbewusstsein mangelt es den Berliner Kritikern damals weiß Gott nicht. Entsprechend polarisierend ist denn auch ihr Urteil. Mit seiner spitzen Feder sieht sich Alfred Kerr als "Dichter-Kritiker". Dessen Urteil entscheidet über Wohl und Wehe eines Schauspielers.

"Mein Auge sieht mit stillem Hohn / Den ringenden Schimpansensohn."

Und auch manche, beim Publikum beliebte Dramatiker entgehen nicht Kerrs vernichtendem Urteil.

"Die Seichtigkeit und knüppeldicke Plumpheit haben Herrn Sudermann empor getragen."

Das Feuilleton der Berliner Presse in Berlin bietet seit der Reichsgründung 1871 aber weit mehr als nur Kulturkritik. Das Leben der Stadt mit ihren Trivialitäten, Abgründen und Höhepunkten sind die Themen. Das Feuilleton spiegelt und ist Zeitgeschichte.

"Mancher wird meinen, es gehöre zu den ausgefallendsten Ideen, über die Linienstraße zu schreiben. Ich aber behaupte, dass diese Straße des kleinen Bürgertums und des Verbrechens mit zu den interessantesten Straßen Berlins gehört, dass sie wohl weniger bauliche als kriminelle Reize hat und dass sie für den, dessen Augen bestrebt sind, tiefer zu blicken, eine besondere Anziehungskraft besitzt."

"Der Berliner Ton hat etwas Spezifisches, die Unfeinheit hat sich hier einen Typ geschaffen."

"Lieblich ist, dass die Berliner Fräuleins so kurze Röcke tragen, kürzer als in allen anderen Städten, hoch über die Knie. Allerdings taugen die Knie der Berliner Fräuleins manchmal gar nichts, aber man kann auch nicht alles verlangen."

"Wieder ein Nachtasyl für Genüßlinge ausgehoben worden, in dem der Sekt zu 175 Mark die Flasche, Leute mit verdorbenem Geschmack sich an Nackttänzen erfreut haben."

Kapitel 4 – Nur noch Geschichte

Von Berlin ging der Krieg aus, nun kehrt er zurück. Das Zeitungsviertel liegt 1945 in Schutt und Asche.

"Die Berliner Journalisten waren ihrem Quartier verfallen. Sie fühlten sich am glücklichsten, im Terpentindunst ihrer Setzereien, im stickigen Zigarettenrauch der Kaffeeklappen, in den italienischen Lokalen und den Druckereikellern, wo die Rotationsmaschinen dröhnten."

Aus. Vorbei. Ende. Endstation einer Entwicklung, die schon vor 1933 begann. Vom Berliner Zeitungsviertel aus baute der Industrielle Alfred Hugenberg sein republikfeindliches Medienmonopol mit Verlag, Nachrichtenagentur und der UFA auf und aus. Die demokratisch gesonnenen Ullstein-Brüder mussten ihr Presseimperium für einen lächerlichen Preis abtreten, aufgeschlossene oder liberale Blätter wurden eingestellt. Andere verboten. Gleichschaltung ersetzt große Köpfe und spitze Federn.

1945. Der Frieden teilt die Stadt und das Land. Der Wiederaufbau des großen Zeitungsquartiers hat keine Chance – erst verläuft die Sektorengrenze genau durch das Presseviertel, ab 1961 die Mauer. Berlin ist Frontstadt. Große Zeitungsverlage fliehen den Ort, suchen das sichere Hinterland westlich der Elbe. Der Aderlass des intellektuellen Potenzials geht damit einher. Berlin – eine Provinz mit einer großen Mauer.

1967 bezieht der Hamburger Zeitungsverleger Axel Springer Stellung im ehemaligen Berliner Zeitungsviertel. Er hat Ullstein-Anteile erworben, verlegt den Hauptsitz seines Unternehmens von Hamburg nach Berlin. Das direkt an der Mauer errichtete Verlagshochhaus sieht er als

"unübersehbares Bollwerk der Freiheit gegenüber der Unfreiheit der Bolschewisten."

Die "Berliner Morgenpost" und die "B.Z." erscheinen wieder - nun bei Springer. Doch der Verlag polarisiert. Springers Blätter machen Ende der 60er Jahre Kampagne gegen die Studentenbewegung.

"Kein Geld für langbehaarte Affen"

"Unruhestifter unter Studenten ausmerzen"

"Politgammler" – "Wirrköpfe" – "Krawall-Radikale"

Die Konfrontation bleibt nicht aus. Nach dem Attentat eines Rechtsradikalen auf den Studentenführer Rudi Dutschke blockieren 1968 Berliner Studenten die Auslieferung der Zeitungen am Springerhaus. Sie fordern:

"Enteignet Springer"

Sein Anteil am Berliner Zeitungsmarkt beträgt damals knapp 80 %.

Mit dem programmatischen Ziel, "eine Gegenöffentlichkeit zu entwickeln", gründen ehemalige Mitglieder der Studentenbewegung 1979 in Berlin die linksalternative "tageszeitung". Wie zuvor schon Springer profitiert auch die "taz" dabei von staatlicher Subventionierung durch die Berlin-Förderung. Zehn Jahre später erwirbt die "taz" ein eigenes Verlagshaus und nennt es "Rudi Dutschke Haus" – vis-a-vis von Springer in der Kochstraße.

Kapitel 5 – Dazumalen & heutzutage

Das ehemalige Berliner Zeitungsviertel im vereinigten Deutschland. Das Meinungsmonopol von Springer hat Konkurrenz bekommen. Nicht mehr nur durch die kleine "taz" und den alten West-Berliner "Tagesspiegel". Hochfliegend sind zunächst die Erwartungen.

In den westdeutschen Verlagshäusern glaubt man, dass in Berlin redigierte Zeitungen einen neuen Markt erobern werden. Große Blätter wie die "Süddeutsche Zeitung" und die "Frankfurter Allgemeine" etablieren in Berlin neue Redaktionen. Aufwendige Berlin-Beilagen kommen hinzu, einschließlich einem ehrgeizigen Berlin-Feuilleton.

Doch die Euphorie legt sich recht schnell – man findet kaum Leser! Die Beilagen verschwinden wieder und die neuen Redaktionen werden drastisch verkleinert.

Das frühere Ost-Berliner Blatt, die "Berliner Zeitung", kann sich wie "Tagesspiegel" und "Morgenpost" auf dem regionalen Markt behaupten, aber bundesweites Bedeutung erreichen sie alle nicht.

Berlin. Die Stadt und die Hauptstadt - ein Großbürgertum, zumal ein intellektuelles Bürgertum, wie es einst in der Hochblüte des Zeitungsviertels das anspruchsvolle deutsche Zeitungswesen prägte und trug, ist nicht wieder aufgetaucht. Die Insellage verhinderte seine Ansiedlung, die Vereinigung beförderte sie nicht. Wie heißt es so schön: "Berlin ist immer im Werden, nie fertig."

Agenturen, Medienbetriebe, Film- und Fernsehgesellschaften und die Zeitungsverbände haben sich im ehemaligen Zeitungsquartier angesiedelt. Aber ist das schon wieder das Berliner Zeitungsviertel? Es ist ein Medienviertel.

Die große Zeit der Konzentration großer renommierter Verlage und großer einflussreicher Schreiber am historischen Ort ist Vergangenheit. Das kämpferische Feuilleton mit seinen anspruchsvollen Schreibern ist offenbar auch Geschichte, aber sie muss deshalb noch nicht zu Ende sein. Nur all zuviel ist allerdings noch nicht eingelöst, von dem, was einst der große Feuilletonist Joseph Roth einforderte und beispielhaft erfüllte:

"Das Feuilleton ist für die Zeitungen ebenso wichtig wie die Politik und für den Leser noch wichtiger. Die moderne Zeitung wird gerade von allem anderen, nur nicht von der Politik geformt werden. Die moderne Zeitung braucht den Reporter nötiger als den Leitartikler. Ich bin nicht eine Zugabe, nicht eine Mehlspeise, sondern die Hauptmahzeit. Mich liest man mit Interesse. Nicht die Berichte über das Parlament, nicht die Telegramme. Ich mache keine witzigen Glossen. Ich zeichne das Gesicht der Zeit. Das ist die Aufgabe einer großen Zeitung."